Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
Vom Netzwerk:
Verlässlichkeit regierten. Als sie nun vor diesen Bildern der abwesenden und verblichenen Mitglieder der Familie Torres-Thompson stand, wurde ihr klar, dass sie bald wieder wie eine Immigrantin würde denken müssen, wie eine Verzweifelte auf der Straße, die nicht wusste, wohin der Asphalt und die unsichtbaren Kohlenmonoxidspuren sie führen würden.
    Scott erwachte auf Charlotte Harris-Hayasakis Couch nach einem achtundvierzigstündigen Bacchanal aus Popcorn, Nachos, Pizza, Diätbrause und Energiedrinks, vertilgt vor Charlottes Flachbildschirm und ihrer Spielkonsole. Charlotte hörte sich die Beschwerden über seine Frau an, fütterte ihn mit Knabberzeug, das er zwanghaft und freudlos in sich hineinstopfte, sie kuschelte sich neben ihn auf ihre Kunstledercouch, gelegentlich berührten sich ihre Schultern oder Beine. Sie versuchte ihm den Nacken zu reiben: »Bei diesen Spielkonsolen muss man aufpassen mit den Handsehnen.« Doch es gelang ihr nicht, jene Leidenschaft zu wecken, die bei einem Mann unterhalb der Gürtellinie begann, sich durch Nerven und Muskeln fortpflanzte, durch Unvernunft vergrößerte und schließlich zu feuchten Lippen und kreiselnden Zungen führte. Stattdessen hatten sie den kleinen Jungen in ihm freigesetzt.
    Hier und da ein paar Minuten zum Spielen abzuzweigen, das war eine Sache, dachte Scott: aber den inneren Spieler völlig von der Leine zu lassen, eine ganz andere. Diese Spiele waren dazu gedacht, sie stundenlang zu spielen; nur so konnte man ihre labyrinthischen Erzählungen und die überzeichnete Grafik der virtuellen Ebenen tatsächlich würdigen. An seinem zweiten Vormittag hier spielte Scott sich weiter durch Charlottes beeindruckende und vielfältige Sammlung, schlug einen Chip aufs Grün des siebten Lochs von Pebble Beach, während die Brandung aus den Lautsprechern dröhnte, verhandelte mit Don Corleone in dessen Arbeitszimmer, hämmerte stählerne Klingen in einer mittelalterlichen Schmiede und zog mit seinen neuen Waffen gegen Horden bärtiger Wikinger an einem skandinavischen Strand in die Schlacht.
    »Wahrscheinlich steckt man sie in eine Pflegefamilie. Oder ins Heim. Bis man die Eltern findet. Was sollen sie sonst machen?« Zu diesem Schluss kam Marisela am Telefon, und das deckte sich mit Aracelis Einschätzung – so etwas würde passieren, wenn sie die Polizei einschaltete. »Und natürlich werden sie anfangen, Fragen zu stellen. Die Polizei muss dich befragen.«
    »Das ist nicht gut.«
    »Nein, nicht für dich.«
    »Und die Jungen?«
    »Die werden sie wahrscheinlich in den Streifenwagen setzen, aufs Revier fahren und dann in Pflege geben.«
    »Was könnten sie sonst noch tun?«
    Kinder, die unter Bettdecken mit Mond und Sternen darauf im Zimmer der tausend Wunder schliefen, sollen keine einzige Nacht in Pflege verbringen müssen. Araceli stellte sich Schlafsäle vor, drangsalierende zwölfjährige Psychopathen, kalte ungesalzene Käsemakkaroni. Kinder, die in der gefilterten Luft und den gleichmäßigen Temperaturen des Paseo Linda Bonita aufgewachsen waren, würden es in den zugigen Lagerhallen der »Pflege« nicht lange aushalten. Sie sah die Jungen sich unter ungewaschenen Decken krümmen, grausame Verweise von kaltherzigen Pflegern erhalten, die nicht erkannten, wie besonders und wie klug sie waren, dass sie Geschichtsbücher lasen, dass sie am Himmel Orion und die Zwillinge erkennen konnten, ebenso Quarzit und Kieselsäure, alles infolge der Bibliothek im Zimmer der tausend Wunder. So intelligente und sensible Kinder wie diese Jungen – Eigenschaften, die ihre Mutter nicht genügend zur Kenntnis nahm, sie sah nur ihre wilde und unordentliche Männlichkeit – sollte und konnte man nicht den Unwägbarkeiten eines Heimaufenthaltes überlassen.
    Araceli wollte nicht für den Verlust ihrer Unschuld verantwortlich sein. Es gab nur eine begrenzte Menge Unschuld auf der Welt, und die sollte geschützt werden: Wie die arktische Wildnis und Elefantenstoßzähne gehörte sie zu den Schätzen der Natur. Und was würde die Polizei zu ihr sagen, mit ihr anstellen? Wahrscheinlich würde man sie den Grenzschützern in ihren blauen Windjacken melden, den Leuten vom ICE – schwer vorstellbar, dass eine Mexikanerin ohne Greencard einfach die Polizei anrufen und ihnen zwei herrenlose amerikanische Kinder präsentieren konnte, ohne sich damit in einem amtlichen Netz zu verfangen, das letztlich zu ihrer Deportation führen würde.
    Vielleicht war sie auch voreilig. Wenn am

Weitere Kostenlose Bücher