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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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bekommen hatte, überzeugte sie endgültig, dass es Zeit war, Mexiko City zu verlassen. Die Busfahrgäste hatten keine sichtbaren Verletzungen davongetragen, obwohl einige am Bordstein saßen und sich theatralisch das Genick rieben, während ein Taxifahrer ihnen Vorhaltungen machte. Ein paar Schritte weiter lag ein magerer Teenager mit schokoladenbrauner Haut und öligem Haar auf dem Rücken in der Gosse und schnappte nach Luft, die glühend aufgerissenen Augen in den schmutzig blauen Himmel gerichtet, während zwei Dutzend Mitbürger sich um ihn versammelten und ihn mit dem gefühllosen, distanzierten Blick betrachteten, für den die chilangos so berühmt sind. Sieh mal an. Da stirbt ein junger Mann vor unseren Augen. So was kriegen wir normalerweise nicht zu sehen. Das ist doch viel echter als im Fernsehen, was? Das ist kein Schauspieler. Das ist ein armer Schlucker wie wir. Wir können ihm nicht helfen; wir können nur schauen und der Jungfrau Maria danken, dass wir nicht selbst da liegen.
    »Stirbt er, Mama?«, fragte eine Kinderstimme.
    »Wo bleibt der Krankenwagen?«, rief eine verärgerte Stimme von weiter hinten in der Menge.
    Das junge Unfallopfer war ein Straßenhändler: Ein paar Schritte weiter lag sein verbogenes Fahrrad, ein Passant sammelte seine Ladung Luffa-Schwämme ein und stapelte sie zu einer kleinen Pyramide neben dem Rad. Ja sicher, der Junge stirbt, aber vielleicht können sie seine Luffas im Himmel gebrauchen. Araceli stand am Rand der Plaza von Coyoacán, sah die Kirchenkuppel aus dem siebzehnten Jahrhundert und den Pavillon, daneben eine Reihe von Bäumen, deren Stämme man weiß angemalt hatte, damit niemand dagegenfuhr. Sie fühlte Galle in ihre Kehle steigen, als die anderen Gaffer die Ellbogen an ihre drückten. Ein rotes Rinnsal tröpfelte dem jungen Mann aus der Nase, und als er die Augenlider nicht mehr bewegte, dünnte die Menge sofort aus, die Leute gingen durch die Stille davon, die immer noch von keiner Rettungswagensirene zerrissen wurde. In diesem Augenblick erkannte Araceli in vollem Umfang die Grausamkeit ihrer Heimatstadt, die Gefahr eines Lebens zwischen so viel ungeregeltem Verkehr und unerfüllten Wünschen – an einem Ort, wo geborene Bauern und Fischer vor Autos rannten, die schneller waren als jedes Pferd oder Segelboot. Der Unfall setzte ihren oft verschobenen Plan, in die USA zu gehen, endlich in Bewegung. Am selben Abend brachte sie den schicksalhaften Anruf bei einer Freundin in Los Angeles hinter sich, und sie glaubte aus der fröhlichen Stimme der Freundin einen Ort herauszuhören, an dem Autos, Fahrräder und Fußgänger alle ihre eigenen Bahnen zogen, sich vernünftig und gefahrlos durch die Stadt bewegten.
    Scotts Fahrtroute vom Irvine Hampton Inn zu seinem Haus am Hügel führte über die fünfspurige Interstate 5, die zu Scotts Jugendzeiten, als man die Straße noch den »Golden State Freeway« nannte, viel schmaler und weniger befahren gewesen war. Heute war der Highway ein ungeheures Förderband für Metall und heiße Luft, und egal, ob mit sechzig oder hundert Stundenkilometern, die schnurgerade Ausrichtung und die schiere Breite hatten eine hypnotische Wirkung auf die Autofahrer. Während er durch die dünn besiedelten Randgebiete des Orange County fuhr, zu später Morgenstunde, nach dem Berufsverkehr, vermengten sich Scotts Gedanken an das bevorstehende Wiedersehen mit Maureen mit den vorbeiziehenden Strichen und Punkten der Fahrbahnmarkierungen. Die Linien waren eine Sirene, die ihm im Rauschen des Fahrtwinds zumurmelte: Folge mir, folge mir, folge mir, auf Berge und Wiesen und zu unbekannten Abfahrten, an Orte, wo niemand wusste, dass er seine Frau auf einen Couchtisch gestoßen hatte. Als die Trance des seligen Vergessens endete, war Scott nur noch hundert Meter von seiner Abfahrt entfernt, aber immer noch auf der ganz linken Spur, und es war zu spät, drei Fahrspuren zu überqueren und die Ausfahrt zu nehmen, die ihn zur Küste und zu den Laguna Rancho Estates bringen würde. Verdammt! Scott knirschte mit den Zähnen und fluchte noch immer, als seine übliche Ausfahrt und die zugehörige Straßenbrücke im Rückspiegel kleiner wurden. Nun raste er aufs städtische Zentrum des Orange County zu. Die Kurskorrektur für den Heimweg hätte einen Spurwechsel nötig gemacht, er hätte die nächste Ausfahrt nehmen müssen, doch Scotts Hände widersetzten sich: Sie ließen das Auto, vom eigenen Schwung getragen, weiter vorwärtsrollen, weg von Maureen.

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