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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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Montagmorgen weder Scott noch Maureen wieder auftauchten, würde sie in Scotts Büro anrufen und verlangen, dass ihr Arbeitgeber sofort nach Hause zurückkehrte.
    Araceli lag in tiefem Schlaf auf dem Fußboden vorm Zimmer der tausend Wunder und träumte, sie ginge durch die Flure ihrer Kunsthochschule in Mexiko City, die aber überhaupt nicht wie ihre Kunsthochschule aussah, sondern eher wie eine Fabrik im trostlosen Teil einer amerikanischen Stadt. Es dauerte eine Weile, bis sie von den Schreien geweckt wurde.
    »Mommy! Mommy! Mommy!«
    Sie setzte sich auf und sah im gelben Schein des Nachtlichts, dass Keenan die Wand neben seinem Bett anschrie.
    »Keenan, qué te pasa? «
    »Mommy!«
    »Keenan. ¡Despiértate! Du hast einen Alpentraum.«
    »Mommy!«
    »Das ist nur ein Alpentraum!«, beharrte Araceli, worauf Keenan zu schreien aufhörte, sich umdrehte und nach seiner mexikanischen Betreuerin suchte. In seinen Augen war das Zimmer wie das Innere eines kleinen U-Bootes im tiefen Meer der Dunkelheit, eine Blase des Lichts und der Sicherheit in einer erschreckenden Welt ohne Eltern. Kapitän dieses Fahrzeugs war die Mexikanerin mit dem breiten Gesicht, die nun von der Zimmertür mit großen, verstörten Augen zu ihm aufschaute.
    »Was?«, fragte Keenan mit hoher, verblüffter Stimme, auf einmal nicht mehr ängstlich.
    »Was hast du gesagt, was hat er?«, fragte Brandon aus dem oberen Etagenbett.
    »Einen Alpentraum.«
    »Wie bitte?«
    »Einen Alpentraum«, wiederholte Araceli. »Wenn man im Schlaf schlimme Sachen sieht.«
    Nach kurzer Pause sagte Brandon im lehrerhaften Ton: »Nein, richtig heißt es Albtraum.«
    »Pues, una pesadilla entonces« , sagte Araceli ärgerlich. »Albtraum« war eines dieser Worte in der fremden Sprache, das ihr nie leicht von der Zunge rollte, vor allem da es keinerlei Ähnlichkeit mit dem spanischen Ausdruck hatte.
    »Ja, pesadilla heißt es auf Spanisch«, sagte Brandon diplomatisch. Und damit legten er und sein Bruder wieder den Kopf aufs Kissen, und beide fanden, dass »Alpentraum« irgendwie ein besseres Wort war als »Albtraum«: Man fühlte sich so bedrückt, als ob ein riesiges Gebirge auf einem lastete, dachte Keenan, und nach kurzer Zeit war er wieder eingeschlafen, genau wie sein Bruder.
    Araceli lauschte, wie ihre jungenhaft kurzen Atemzüge gleichmäßig wurden, das leise Lied ruhender Kinder. Jetzt verbringe ich schon die dritte Nacht allein mit diesen Jungen. Eigentlich sollte ich diejenige sein, die im Schlaf schreit. Ich sollte nach meiner Mama rufen. ¡Mamá, ayudame!
    Sie konnte nicht wieder einschlafen und beschloss, sich einen Kamillentee zu kochen. Mit der dampfenden manzanilla ging sie ins stille Wohnzimmer, zündete eine der nach Lavendel duftenden Kerzen an und setzte sich auf die Couch. Maureen hielt nie ein Streichholz an diese Kerzendochte – wieso kaufte man etwas, das man dann nie benutzte? Araceli nippte an ihrem Tee, sah die gelbe Flamme flackern und lange Schatten durch den Raum werfen. Das weiche, tanzende Licht fiel auf die Familiengalerie Torres-Thompson und färbte die Gesichter mit Nostalgie und Verlust. Das sind blutsverwandte Menschen, aber sie sind einander fern. Pobrecitos . Das Foto der jüngeren Version von el abuelo Torres kam ihrer eigenen Erfahrungswelt am nächsten: Die städtische Umgebung war ihr vertraut, ebenso das Mestizenlächeln. War er wie Araceli durch die Wüste gerannt, um in die Vereinigten Staaten zu kommen? Araceli hatte ein ähnliches Foto von ihrer Mutter in Mexiko City, aufgenommen von einem dieser Männer mit großen Polaroidkameras auf dem Zócalo, als ihre Mutter noch jung und gerade erst aus dem provinziellen Hidalgo hergezogen war. Meine Mutter hat sich damals noch wie eine Touristin in Mexiko City gefühlt, und genauso geht es dem jungen Mann auf diesem Bild – es sind die ersten Tage seines Los-Angeles-Abenteuers. Das Gefühl des Ankommens lag auch über diesem Bild; die hochgezogenen Brauen sprachen zugleich von Erstaunen und Selbstsicherheit. Dann fiel ihr etwas hinter dem jungen Mann ins Auge. Drei Zahlen schwebten neben seinem ölig zurückgekämmten Haar, sie hingen an der Wand hinter ihm: 232. Eine Hausnummer. Sie erinnerte sich, wie sorgfältig ihre Mutter Daten und andere Informationen hinten auf Familienfotos notiert hatte. Sie folgte ihrem Impuls, nahm den Rahmen in die Hand, bewegte die Klammern zur Seite, die das Bild festhielten, und nahm es heraus. Auf der Rückseite fand sie Wörter und Zahlen in der

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