In den Häusern der Barbaren
Mutter (in dem sie früher Keenans Windeln und Fläschchen transportiert hatte), und auf dem Kopf hatte sie einen schlabberigen, hellbraunen Sonnenhut, den Maureen gern bei sommerlichen Tagesausflügen trug. Vor wenigen Minuten hatte sie eine Mindestausrüstung für sich gepackt – zwei Sätze Wechselkleidung und das wenige Bargeld, das sie weder ausgegeben noch zur Bank gebracht hatte, wobei sie ihr Sparbuch in einer Schublade verstaute. In die Vordertasche des Rucksacks hatte sie das Foto ihres Reiseziels gesteckt, dazu eine Packung Feuchttücher, mit denen Maureen sonst Samanthas Po abwischte. Außerdem hatte sie das einzige Ausweisdokument mitgenommen, das sie besaß: einen mexikanischen Wahlausweis vom IFE . Dann hatte sie den Jungen ihre Reiseroute verkündet, mit selbstbewusster Autorität und in knappen Sätzen, die englische Hauptwörter mit spanischen Verben und Adverbien mischten: » Primero bajamos al Eingangstor, y luego al Bushaltestelle, y después al Bahnhof, que nos lleva a Innenstadt Los Angeles, y finalmente tomamos den Bus a la Haus de tu Großvater.« Die Jungen wollten unbedingt los, dachten schon an das verschwörerische Flüstern ihres Großvaters, an den Duft seines Aftershaves, an den Swimmingpool, den es in seiner Wohnanlage gab und in den sie sich am Ende ihrer Reise stürzen könnten. Doch ehe er den nächsten Schritt tat, wartete Brandon auf Augenkontakt mit Araceli, denn nach nicht mal einer Minute Fußmarsch in der Julisonne war ihm aufgegangen, wie seltsam ihre Unternehmung war: eine Expedition durch Straßen, die er sonst nur durchs Autofenster seiner Eltern sah. Von der Gehsteigkante schaute er zu Araceli hoch, dann wieder auf die Straße: Hitze flimmerte über dem Asphalt und ließ ihn wie einen See aussehen, so als stünden sie am Ende einer Pier und wollten in einem kleinen Nachen in die schäumenden Wogen ablegen.
»Vámonos« , sagte Araceli, und Brandon ging weiter, Keenan und Araceli im Gänsemarsch hinter ihm her. Brandon lauschte dem Bellen unsichtbarer Hunde, die sich in ihrer eigenen Sprache unterhielten, nahm er an: Menschen! Alarm! Unbekannte Menschen! Bis zum Eingangstor der Siedlung trafen sie keine lebende Seele außer zwei mexikanischen Gärtnern, die an einem frisch gemähten Rasenstück die Kanten schnitten, und die waren so in ihre Arbeit vertieft, dass sie ihre Landsfrau zu Fuß und mit zwei nordamerikanischen Kindern im Schlepptau gar nicht bemerkten. Als Araceli mit den beiden ans Eingangstor kam, entgingen sie auch der Aufmerksamkeit der schwangeren jungen Frau, die dort Wachdienst hatte: Sie telefonierte und kontrollierte gleichzeitig die Papiere eines verbeulten Umzugslasters und seines mexikanischen Fahrers. Die drei liefen auf der öffentlichen Straße ohne Gehweg weiter bis zur nächsten Kreuzung. Jetzt ging Araceli voraus und befahl den Jungen, auf dem Grasstreifen am Rand zu bleiben, wobei sie ihre Koffer am Griff tragen mussten. Dann warteten Brandon und Keenan zum ersten Mal in ihrem jungen Leben auf einen Stadtbus. »Welche Farbe hat der Bus?«, fragte Brandon. »Gibt es da Sicherheitsgurte?«
Sicherheitsgurte wären gar keine schlechte Idee, dachte Araceli, als der Bus ächzend bergauf und bergab zum Bahnhof rollte. Die Jungen saßen nebeneinander im Sitz vor Araceli, hielten sich am Haltegriff an der Lehne vor ihnen fest und beugten sich mit großen Augen vor, wie auf einem Karussell im Vergnügungspark, und einen Augenblick lang erschrak Araceli darüber, wie klein und zerbrechlich sie waren; sie dachte an einen Unfall, der Prellungen und Knochenbrüche nach sich ziehen könnte. Diese Jungen reisten sonst nur in crashgetesteten, von amerikanischen Ingenieuren konstruierten Familienautos. Bei einem Busunfall flogen nicht selten Körper durch die Luft, die dann gefährlich gegen Metall und Glas prallten. Das hatte Araceli in Mexiko City gelernt; sie kannte die Gefahren aus erster Hand. Sicher, dieser amerikanische Busfahrer schlängelte sich nicht halsbrecherisch durch den Verkehr wie seine mexikanischen Kollegen, die mit unbegreiflicher Aggressivität in rostigen, klapprigen Fahrzeugen unterwegs waren. Einmal war sie zufällig an einen Busunfall herangetreten, nach ihrem letzten Gang über den Kunsthandwerkermarkt in Coyoacán, kurz nachdem sie ein kleines Ölbild gekauft hatte: ein auf Holz gemaltes Porträt eines maskierten Lucha-Libre -Catchers, steif im Anzug neben seiner Braut. Was sie in der folgenden Szene an Dummheit und Leid geboten
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