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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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Vielleicht bin ich noch nicht bereit, nach Hause zurückzukehren. Der Fluss der Fahrzeuge war wie ein Datenstrom, und vielleicht musste er noch herausfinden, wohin ihn sozusagen die Information tragen würde. Er fuhr an Disneyland vorbei, verließ Orange County und kam bei La Habra aufs Stadtgebiet von Los Angeles. Kurz darauf näherte er sich der Ausfahrt Telegraph Road, die zu seinem alten Viertel in South Whittier führte. Jetzt endlich fuhr er vom Highway ab und steuerte den wenig eleganten, verkrauteten Streifen vorstädtischer Zersiedelung an, wo Scott als Teenager Bekanntschaft mit den Freuden der Programmiersprache FORTRAN und der Masturbation gemacht hatte.
    Er gelangte in ein Industriegebiet des späten zwanzigsten Jahrhunderts, das rund um eine alte Ölquelle namens Santa Fe Springs gebaut war. Die Nebenstraßen waren um diese Uhrzeit von Sattelzügen verstopft, er fuhr vorbei an einem Baseballfeld und einem Fußballplatz mit zwei Toren darin, zwischen denen ein Latino mittleren Alters mit dem Ball am Fuß hin und her sprintete. Scott folgte den splitternden Masten, in denen die Telefonstimmen noch als antiquierte Analogsignale durch Kupferkabel huschten, in Richtung des Horizonts und der Hügel von Whittier. Er kam in die ersten Viertel, wo die Häuser winzig kleine Giebeldächer hatten, wo Familienvans und Pick-ups in den Einfahrten von spanischen Minilandhäusern und Miniranchhäusern standen, deren bescheidene Größe eine Art Tarnung war: South Whittier will unbemerkt bleiben.
    Als er zur Kreuzung Carmelita Road und Painter Avenue kam, änderte sich das Bild abrupt und mit ihm Scotts Stimmung, denn alles an diesem vertrauten Knotenpunkt war mit schmerzlichen Erinnerungen aus der prädigitalen Ära verbunden. Hier waren die Häuser größer und zugleich unsolider als die vorigen, auch gleichförmiger, da sie alle vom gleichen Bauunternehmen nach dem Standardmodell »Ponderosa Ranchette« gebaut worden waren. In diesem alten Viertel war er seit dem Tod seiner Mutter nicht mehr gewesen, und einen Moment lang glommen die verwitterten Märchenpastelltöne der zweistöckigen Häuser genauso unwirklich wie am Augusttag ihres Begräbnisses. Er bremste den Wagen auf zügiges Schritttempo ab und bog um die letzte Ecke, und dann sah er sein altes Elternhaus, den verwaschenen senfgelben Putz, der sich hinter einem wuchernden Olivenbaum versteckte. Er hatte erwartet, sich bei seiner Rückkehr überlegen und selbstzufrieden zu fühlen, weil er in den vergangenen Jahrzehnten größer und weltgewandter geworden war, weil er die Schnittstellen und Netzwerke beherrschte, von denen unsere Welt bestimmt wurde. Doch stattdessen fühlte er sich kleiner. Wir waren immer noch scheißarm und haben es gar nicht gemerkt. Er suchte in der Sackgasse nach einem Parkplatz, aber alle verfügbaren Flächen waren mit Limousinen älteren Designs besetzt, mit Pick-ups, die im Laufe der Zeit unter ihren Ladungen gelitten hatten, und mit einem Kombi. Wurden Kombis überhaupt noch gebaut? Als er hier auf der Straße Baseball gespielt hatte, gab es noch nicht so viele Autos.
    Scott parkte einen halben Block entfernt und stieg aus, überschaute die werktägliche Ruhe und ging auf sein Elternhaus zu. Er blieb stehen, als ihm etwas im Garten des Nachbargrundstücks ins Auge fiel, wo einst die Newberrys gewohnt hatten, mit ihren Ozark-Gesichtern und ihren Cordhosen. Er starrte in die Einfahrt und bemerkte, was nicht zu seiner Erinnerung passte: ein Kasten aus Glas und Metall mit Giebeldach und einem kleinen Kruzifix obendrauf; vom Dach hingen Plastikgirlanden zum benachbarten Garagendach hinüber. Er trat näher heran und sah eine sonnengebräunte Marienstatue in der Kiste, die gefalteten Hände und der blaue Umhang aus bemaltem Gips, eine Girlande aus frischen weißen Rosen um den Hals, brennende Votivkerzen zu den Füßen. Das ist komisch, so mexikanisch. Diese Leute hatten sein altes Viertel, das früher über Radiomittelwellen und VHF -Fernsehsignale an den Rest Amerikas angeschlossen gewesen war, in der Zeit zurückgeworfen, in eine ländliche Ära, eine Epoche der Engel und Wunder.
    »Buenas tardes« , erschreckte ihn eine Frauenstimme. »¿Le puedo ayudar en algo?«
    Scott schaute nach rechts und sah eine Frau von ungefähr fünfzig Jahren in Jogginghose: Sie hatte einen Besen in der Hand, und ihr jenseitiges Lächeln schien überzeugt zu sein, dass er spirituelle Orientierung benötige.
    »Nein, nichts, nada «, stammelte er. »Ich habe

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