Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
Vom Netzwerk:
Illusion des Fliegens, die der Blick durch die großen Zugfenster erzeugte. Ihre geschlossene Kabine bewegte sich vor der flachen, künstlichen Innenstadt-Skyline des Nahverkehrsknotens: ein Potemkinsches Dorf aus Parkgaragen, die sich als Bürogebäude tarnten. Als der Zug den Bahnhof verließ, an Schranken mit blinkenden roten Lichtern vorbei, vor denen Autos mit träumenden Fahrern warteten, warf Araceli sich in ihrem Sitz zurück und seufzte. Mehr oder weniger den halben Weg geschafft. Der Zug bot sauberen Komfort, die weißen Wände, die Edelstahlstangen, die ergonomisch geformten Kunstledersitze und das Schild neben der Tür, das die Herkunft der Waggons verkündete: BOMBARDIER, MONTREAL . Wenn sie die Jungen abgeliefert hatte, würde sie selbst noch ganz kurz beim Großvater bleiben und dann wieder südwärts zu Marisela aufbrechen, um dort auf neue Nachricht über Scotts und Maureens Verbleib zu warten. Sie stellte sich verschiedene Ausgänge des familiären Debakels vor, darunter auch eine Scheidung und ein am Ende leer stehendes Haus, in dem Araceli noch ein letztes Mal staubsaugte, nachdem die Umzugshelfer verschwunden waren, oder eine tränenreiche Wiedervereinigung gefolgt vom überschwänglichen Dank der Eltern an Araceli, weil sie ihre Söhne sicher durch die Krise geleitet hatte.
    Durchs Fenster sahen die Jungen eine Landschaft aus schrumpfenden Hinterhöfen vorbeirauschen: Die stetige Wiederholung von Wäscheleinen und alten Möbeln konnte Brandons Aufmerksamkeit nicht lange fesseln, und schließlich schaute er Araceli an und fragte: »Kannst du mir was zeichnen? Hier in mein Heft? So wie den Drachen, den du Keenan gemalt hast? Der war cool.«
    »Ja, der war spitze«, sagte Keenan.
    »Ich wusste gar nicht, dass du zeichnen kannst«, sagte Brandon.
    » ¿Qué quieres? Was soll ich dir zeichnen?«
    »Wie wär’s mit einem Soldaten?«
    »¿Un soldado? Fácil.«
    Sie nahm sein liniertes Heft, suchte eine leere Seite und warf einen raschen Blick auf Brandons krude Kampfszenen: mit Strichmännchen bevölkerte kleine Landschaften, auf denen eine Krakelarmee Kanonen abfeuerte und eine rechteckige Festung belagerte oder gegnerische Krieger verprügelte, die ihre Stricharme in die Luft streckten und vor gekritzelten Explosionen flohen. Dieser Junge ist sehr klug, aber kein Künstler. Brandon sah gebannt zu, wie sie mit wenigen Strichen einen Mann in Uniform aufs Papier warf, der eine Waffe vor der Brust hielt. Es war eine Muskete wie die in seinem Buch über die amerikanische Revolution, Araceli zeichnete sie aus dem Gedächtnis, wobei die Uniform allerdings modern war, und sie gab ihrem Soldaten eine ganze Reihe von Orden und einen Stahlhelm. Dann arbeitete sie am Gesicht und verlieh ihm Züge, die ihr zutiefst vertraut waren. Er starrte den Betrachter direkt an.
    »Wow«, sagte Brandon, als sie fertig war. »Das Gesicht von dem Typen – der sieht echt knallhart aus.«
    »Richtig fies«, stimmte Keenan zu.
    Es war das Gesicht von Aracelis Mutter.
    Ihre Kunststunde wurde von der ruckelnden Ankunft des Zuges in Fullerton unterbrochen, dem letzten Bahnhof vor Los Angeles. Vier Menschen warteten am Bahnsteig, stiegen rasch ein, und sie fuhren wieder los. Bald rollten sie durch die Gewerbegebiete südöstlich von Los Angeles, ein fensterloses Lagerhaus folgte dem anderen, während der Zug Fahrt aufnahm und leicht zu vibrieren begann. Die Gebäude wurden älter, der neutrale Primärfarbenputz des späten zwanzigsten Jahrhunderts wich den erdfarbenen Backstein- und Mörtelbauten früherer Zeitalter. Plötzlich hatten die Lagerhäuser Fenster, viele davon dunkel und mit Spinnweben überzogen, sodass sie wie Tausende vom grauen Star getrübte Augen wirkten. Der Zug wurde noch schneller und zitterte heftig, weshalb Keenan nach Aracelis Hand griff. Brandon hielt sich an der Armlehne fest, sein Kopf schlug leicht ans vibrierende Fenster. Er überlegte, ob der Zug wohl auseinanderfallen oder ob die Beschleunigungskraft ihn in eine Zeitmaschine verwandeln würde, die sie aus dieser archaischen Backsteinära vorm Fenster in noch fernere, simplere Zeiten transportierte, in denen es Holzfeuer und Steinhütten gab.
    Plötzlich wurde der Zug langsamer und fuhr in einen Rangierbahnhof mit mindestens zwanzig parallel verlaufenden Gleisen ein. Gemächlich rollten sie an Schüttgutwagen vorbei, die vermutlich schon Hunderte Male mit Weizen und Mais aus Kansas hierhergefahren waren, an Kesselwagen, aus deren Einfüllstutzen

Weitere Kostenlose Bücher