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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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bloß früher im Nachbarhaus gewohnt. Ich wollte nur mal schauen, Entschuldigung …«
    »Ist sie nicht schön?«, sagte die Frau mit starkem Akzent. Scott spürte eine religiöse Rede im Anmarsch und wich zurück. »No tengas miedo« , sagte sie wie in Trance, und Scott huschte davon. Er hatte Angst: vor ihrer Statue, vor ihrem Spanisch, vor ihrer seltsamen Religiosität, vor der Macht all dieser Phänomene. Was hatten sie mit den ehemaligen Nachbarn, mit den Newberrys, gemacht? Die Newberrys waren nicht reich. Sie waren aus Little Rock. »Sie will Ihnen helfen«, fuhr die Frau auf Englisch fort, und Scott fragte sich, wie lange die Newberrys wohl schon fort waren und ob sie wussten, dass eine Mexikanerin in ihrem Haus lebte und in ihrem ehemaligen Garten eine Statue anbetete.
    Der Bahnhof Laguna Niguel war ein typisches Beispiel für die seelenlose Funktionalität öffentlicher Architektur im Amerika des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Für Brandon war das Gebäude eine tiefe Enttäuschung, denn er hatte einen richtigen »Bahnhof« erwartet, mit Fahrplänen an der Wand und langen Holzbänken in einem Wartesaal mit hoher Decke. Als Araceli ihnen gesagt hatte, dass sie den Zug nehmen würden, waren vor seinem geistigen Auge Bilder von Dampf spuckenden Lokomotiven aufgetaucht, von Fahrgästen und Gepäckträgern, die auf den Bahnsteigen unter einem gewölbten Glasdach standen. Stattdessen bestand der Bahnhof aus zwei nackten Betonrampen, einer kurzen Metallmarkise, unter der vielleicht sechs oder sieben Menschen gedrängt Schutz vor Regen finden konnten, und vier kühlschrankgroßen Fahrkartenautomaten. Brandon stellte sich Bahnhöfe als Theaterbühnen vor, auf denen sich entscheidende Szenen im Leben der Menschen abspielten. Dieses Bild stammte vor allem aus einer Romantrilogie, die er in der fünften Klasse gelesen hatte und bei der die Schlussszene eines jeden Buches am Gare du Nord in Paris spielte. Er war bisher nur ein einziges Mal Zug gefahren: im Travel-Town-Zugmuseum im Griffith Park, und auch da war der Bahnhof der Nachbau eines richtigen Gebäudes in Kindergröße gewesen, inklusive Fahrkartenschalter und baumelndem LOS-ANGELES- Schild. Das kleine Stahlrechteck, auf dem in der nüchternen, serifenlosen Schrift der Nahverkehrsgesellschaft Metrolink LAGUNA NIGUEL stand, machte dagegen nicht viel her, und Brandon runzelte die Stirn angesichts der Erkenntnis, dass das wahre Leben es nicht immer mit dem Drama und der Szenerie von Literatur und Film aufnehmen konnte. Auch die Menschenmengen, die sich im Film immer um die Züge herumdrängten, waren nirgends zu sehen. Tatsächlich waren Brandon, sein Bruder und Araceli die einzigen Menschen auf beiden Seiten des Gleises.
    Während die Jungen hoffnungsvolle Blicke auf die rostigen Schienen richteten, die sich vom Bahnhof wegstreckten, betrachtete Araceli ihre unmittelbare Umgebung. Bis sie die Jungen zum Großvater gebracht haben würde, waren sie in ihrer Obhut. Für die Jungen im eigenen Heim verantwortlich zu sein, geschützt von verschlossenen Türen oder innerhalb der umzäunten Grenzen eines Parks, das war eine Sache – sie durch die Stadt zu treiben eine ganz andere. Am liebsten hätte sie die beiden zur Sicherheit in einem Käfig aus Stahl hinter sich hergezogen. Der Gedanke, dass sie in einem Unfall verletzt werden könnten, sickerte ihr ins Bewusstsein und rief kurze, irrationale Verlustängste hervor. Sie blickte hektisch um sich, während sie langsam voranging und endlich auf dem leeren Bahnsteig ankam.
    »Hey, da kommt er.«
    Ein doppelstöckiger weißer Pendlerzug mit einem grünen Band an der Seite kam wie eine Schlange auf sie zu, und die Lokomotive schwankte auf den ungeraden Schienen hin und her.
    »Atrás« , befahl Araceli. »Zurück, bis der Zug anhält.«
    Die Jungen sperrten den Mund auf, als die Waggons langsam an ihnen vorbeirollten und ihr massives Gewicht den Boden unter ihnen erzittern ließ.
    »Cool!«
    »Stark!«
    »¡Cuidado!«
    Der Zug hielt an, zwei Schiebetüren öffneten sich vor ihnen. Die Jungen gingen vor und rollten ihre Koffer direkt hinein, denn der Einstieg war auf gleicher Höhe mit dem Bahnsteig. Mit einer Kopfdrehung hatten sie die Treppe zum oberen Stock entdeckt und stiegen hinauf. Araceli hastete hinterher und murmelte »¡Esperen!« in Richtung ihrer Füße. Sie fanden zwei leere Sitzpaare an einem Tisch.
    »Hey, wir bewegen uns.«
    Der Zug fuhr aus dem Bahnhof, und Brandon und Keenan waren kurz gefesselt von der

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