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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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schwarzer Teer tropfte, Containerwagen mit deutschen und chinesischen Aufschriften und unerklärlichen Barcodes an der Seite. Dann fuhr der Zug in einer langen Kurve unter einer Straßenbrücke hindurch, und Araceli betrachtete die verworrenen Kabel und Leitungen, die den Schienen folgten und wie schwarzer, horizontaler Regen aussahen. Sie bemerkte auch den wahllos abgeladenen Müll an der Gleisböschung, die Plastiktüten und Essensbehälter, die über den Schotter verstreut lagen, die rostigen eisernen Fußgängerbrücken, die von Graffiti bedeckten Schaltschränke sowie einen einsamen, gedrungenen Stellwerkturm aus Backstein, dessen Holztüren mit einer Kette versperrt waren. Dieser ganze Verfall besaß eine karge Schönheit, die leere, harsche Landschaft eines verstörenden Traums; Orte, die man eigentlich nicht zu Gesicht bekommen sollte, ähnlich wie die versteckten Lüftungsrohre und Müllschächte einer prunkvollen Villa, in denen sich Spinnweben, Staub und Mäusedreck ungestört sammeln konnten und niemanden kümmerten. Sie fand öde Flächen wie diese ästhetisch und vermisste sie. Hier können Wind, Regen und Sonne Stahl und Beton ungehindert zu Skulpturen formen. Hier wird das Vergessen gefeiert. Sie nahm ihr kleines Notizheft aus dem Rucksack und versuchte rasch, das manisch verschlungene Wesen der Stromleitungen festzuhalten, das Hüpfen des Abfalls im Wind, die fließenden Formen der Rostflecken, bis Keenan mit dem Ausruf »Hier ist aber alles ganz schön dreckig« ihre traumverlorene Konzentration störte.
    Der Zug bremste auf Schritttempo ab, und plötzlich tat sich neben den Gleisen eine Schlucht aus glatten Betonwänden auf, die sich fast zwei Kilometer weit erstreckte und über die mehrere Brücken führten. »Was ist das?«, fragte Keenan.
    »Das ist der Fluss«, sagte Araceli.
    »Das ist ein Fluss?«, fragte Brandon entgeistert, bis er sah, dass auf dem Grund der Rinne Wasser floss, ein Kanal mit schnurgeraden Ufern. »Wie heißt der? Wieso ist der aus Beton? Es hat doch gar nicht geregnet, wo kommt denn das Wasser her?«
    »Zu viele Fragen«, beschied Araceli.
    »Zu viele?« Das hatte noch niemand zu Brandon gesagt.
    »Ja.«
    Brandon schaute den Fluss an und sah, dass ein Riese mit Farbeimer den oberen Rand des Flussbeckens mit einem Mosaik aus glänzenden elefantengroßen Buchstaben überzogen hatte – Worte in gemischtem Grün und fleckigem Gelb, die in einem Wirbel graublauer Spiralen pulsierten. Jedenfalls sah es so aus, als hätte ein Riese sie gemalt. Er überlegte, Araceli zu fragen, verwarf den Gedanken aber. Es war bestimmt ein Riese gewesen.
    »Guckt mal, da wohnen Leute«, rief Keenan so laut, dass auch die vier oder fünf anderen Erwachsenen im Zug aufmerksam wurden, kurz von Zeitungen oder Laptops aufschauten und den vertrauten Anblick der zerlumpten Gestalten, die neben den Gleisen hausten, so rasch wieder vergaßen, wie sie ihn wahrgenommen hatten.
    »Obdachlose«, sagte Araceli.
    Brandon presste die Nase an die Scheibe und sah nach unten, wo er eine Reihe Behausungen zwischen den Gleisen und dem Fluss entdeckte, windschiefe Zelthäuser aus ölfleckigem Sperrholz, sonnengebleichten Zeltplanen, zerfaserten Nylonseilen und Metallfolie. Sie sahen aus wie an den Boden geschmiegte Baumhäuser, improvisierte Kinderbauten, die dann von tuberkulösen Erwachsenen bezogen worden waren. Ein paar Menschen saßen auf Stühlen zwischen ihren Konstruktionen, das eigenartige Dorf folgte der Kurve der Schienen, die Dächer wirkten wie ein langer, gekrümmter Quilt aus Planen und Holz, verziert mit gelegentlichen Rauchsäulen. Brandon suchte nach den Rauchquellen und entdeckte einen schlaksigen Mann mit Pilotenbrille, der gerade auf einem Grillrost einen Wasserkessel erhitzte. Der Zug rollte langsam auf den Mann zu, und ein paar Sekunden war Brandon direkt über ihm. Auf der Wange hatte der Mann eine lange Narbe, aus der schwarze und rote Tropfen sickerten. Eine Kriegsverletzung?, fragte sich Brandon. Ein Schnitt von einem Messer oder einem Schwert? Vor einem Monat hatte Brandon den letzten Band einer vierteiligen Romanserie beendet – Die Saga der Feuerschlucker –, und als er nun mit der Nase an der Scheibe im Zug saß, schien ihm das verstörende Ende dieser epischen Erzählung die einzige Erklärung für die Existenz des leidenden Dorfes da unten. Diese Leute sind Flüchtlinge; das sind die besiegten Krieger und vertriebenen Einwohner der Stadt Vardur. Es waren eigentlich Fantasyromane für

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