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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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anders als die nächste, manche hatten kleine Höfe, eingezäunt mit zu Seilen verdrehten Stromkabeln und Plastiktüten. Ehe der Zug um die letzte Kurve bog und in den Bahnhof einfuhr, entdeckte er einen letzten Flüchtling aus Vardur: eine Frau mit einem wilden Schopf silberweißer Haare, die ihre Hütte mit einem Besen ausfegte.
    Maureen beugte sich über das tragbare Kinderbett in ihrem Hotelzimmer und beobachtete ihre Tochter beim Nachmittagsschlaf. Samantha schlief auf dem Rücken und umklammerte die gelbe Decke, die ihr Tag und Nacht Gesellschaft leistete, ihre geschlossenen Augen waren friedliche Halbkugeln, die rostroten Augenbrauen je ein zarter Äquator. Mit geschlossenen Augen war ihr ovales Gesicht fast identisch mit dem ihres älteren Bruders, als der im gleichen Alter war – ein Bild des kleinen schlafenden Brandon stand gerahmt in der Familiengalerie im Wohnzimmer. Dass Maureen nun bereits seit zweiundsiebzig Stunden von Brandon getrennt war, verstärkte nur den Eindruck, dass sie auf ihren Sohn und nicht auf ihre Tochter hinabschaute; die Abwesenheit ihrer Söhne wurde ihr schmerzlich bewusst. Wenn man seine Kinder schlafend sieht, begreift man erst die ganze Pracht und Schönheit der Elternschaft; man steht wach vor ihren stummen Bedürfnissen, vor ihrer Reinheit und Verletzlichkeit. Sie blickte auf und sah ihre Umgebung – ein Hotelzimmer, leicht übertrieben im Folklorestil des amerikanischen Südwestens dekoriert, eine Navajo-Decke dem Bett gegenüber an die Wand genagelt, ein echter, von der Wüstensonne gebleichter Widderschädel an der Tür – und sie hörte die Stimme ihres Gewissens aufschreien: Was habe ich getan? Mein Sohn! Meine Jungen! Sie griff zum Telefon und rief zu Hause an.
    In diesem Augenblick stiegen Maureens Söhne in der Union Station folgsam hinter ihrer mexikanischen Aufpasserin aus dem Zug. Sie gingen auf einem von mehreren parallelen Bahnsteigen zwischen mächtigen Lokungetümen entlang, von denen eine laut klingelte, als sie im Tempo eines Fußgängers auf die offenen Gleise Richtung Stadt hinausfuhr. Brandon und Keenan sahen Gepäckträger mit Uniformmützen und ältere Menschen, die sich vergeblich mit Kofferstapeln auf Stahlkarren abmühten, und hörten die Lautsprecherdurchsage: »Letzter Aufruf für den Sunset Limited … alles einsteigen, bitte!« Endlich sind wir in einem richtigen Bahnhof, dachten sie sich. Die Jungen wollten noch länger auf dem nicht überdachten Bahnsteig bleiben, in der Gegenwart all dieser rollenden Güter und Passagiere, doch Araceli drängelte mit ungeduldigem »Órale, por aquí« , und sie stiegen eine lange, schräge Rampe hinab unter die Erde.
    Sie kamen in einen breiten Gang mit niedriger Decke, der Keenan an die Flughäfen erinnerte, die er schon gesehen hatte. Araceli war an ihren ersten Tagen in Los Angeles oft hier gewesen, und die vielen Menschen mit ihren großen Reisetaschen und Kartons unterm Arm ließen sie an diese andere, unschuldigere Araceli denken. Sola. Mit ihrem Hartschalenkoffer, über den der Schieber gespottet hatte, weil er so offensichtlich unpraktisch war, geblendet von der glatten Fremdartigkeit der Stadt, bedrängt von einer plötzlichen Agoraphobie, da sie auf einer riesigen Fläche voll unbekannter Dinge stand. Von diesem Wiedersehen mit ihrer jüngeren Vergangenheit wurde Araceli noch unwohler, und umso dringender wollte sie ihr Reiseziel erreichen. Sie schaute nach beiden Seiten, wählte den Weg nach rechts und ging zügig los, schlängelte sich geschickt zwischen den Strömen von Fahrgästen hindurch, fast wieder eine chilanga , und weil sie es so eilig hatte, hätte sie dabei beinahe Brandon und Keenan verloren.
    »He, Araceli, warte auf uns«, rief Brandon, und Araceli wandte sich um und schaute ihn leicht genervt an, wie sie es zwei- oder dreimal täglich zu Hause im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, in der Küche getan hatte.
    Jetzt gingen sie nebeneinander an einer elektrischen Anzeige der Abfahrtszeiten und Fahrtziele vorbei – LAS VEGAS BUS, TEXAS EAGLE, SURFLINER NORTH – und kamen plötzlich in einen Raum, wo die niedrige Decke sich weitete. Brandon und Keenan legten die Köpfe in den Nacken und bewunderten die mit unbestimmt mediterranen oder maurischen Fliesen geschmückte hölzerne Decke, die zugleich Wärme und Größe ausstrahlte. Von den Dachbalken hingen Kronleuchter, die wie barocke Raumstationen aussahen, und beide Jungen formten mit den Lippen ein stummes Boah! , als sie darunter

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