In den Häusern der Barbaren
ältere Teenager, die in den steinernen Häusern von vorindustriellen Dörfern spielten. Sein Vater hatte alle vier Bände vor einigen Jahren gekauft und gelesen und sie dann in irgendeinem Regal vergessen, wo sein Ältester sie entdeckt hatte. Brandon hatte die Tage in Gesellschaft der Bösewichter verbracht und war von Kapitel zu Kapitel faszinierter gewesen: ein Trupp rauer Männer und Jungen, die vor und nach dem Kampf rituell Flammen schluckten. Dieses Obdachlosenlager schien ihm in die Zeit zu gehören, die in den Büchern beschrieben wurde, ein von Elektrizität oder überhaupt Modernität ungetrübtes Leben. Eigentlich hätte Brandon die Feuerschluckerbücher niemals lesen dürfen, denn sie enthielten plastische Schilderungen von brutaler Kriegsführung, ganze Dörfer inklusive der Kinder wurden abgeschlachtet, wobei mit Klingen zugestochen wurde, die aus verschiedenen echten und ausgedachten Metallen bestanden. Die Gegner schwangen faschistoide Reden über »die Schwachen«, »die Starken« und »die Reinen«. Es sollte eine Allegorie auf die Grausamkeit und Propaganda der Moderne sein, und die Bildsprache bediente sich so realistisch bei den Schandtaten des zwanzigsten Jahrhunderts, dass der scharfsinnige Brandon vor einiger Zeit zu dem Schluss gekommen war, die Geschichte könne nicht allein der Phantasie des Autors entstammen. Schon lange vor dieser Zugfahrt hatte Brandon sich mit der Idee angefreundet, dass die Feuerschluckersaga in Wirklichkeit nur eine leicht veränderte Darstellung eines zwar primitiven, aber tatsächlich existierenden Winkels der Welt war. Ganze Städte, in denen alle guten Menschen ausgemerzt waren, in denen Zivilisten gefoltert und ihre Häuser und Bücher verbrannt wurden: Wie konnte solches Unrecht existieren, wie konnte die Menschheit damit leben? Er wusste, er hätte eigentlich mit seiner Mutter über die Lektüre reden sollen, die offensichtlich keine Ahnung hatte, was genau für Bücher er da durchs Haus schleppte: »Du bist wirklich ein tüchtiger kleiner Leser«, pflegte sie bloß zu sagen. Die Naivität der Erwachsenen verblüffte ihn, andererseits war es zweifellos cool, verbotene Dinge zu wissen, die anderen, weniger lesefreudigen Elfjährigen nicht zugänglich waren. Allerdings kosteten ihn die Geschichten aus der Saga gelegentlich auch den Nachtschlaf, weshalb er sich schließlich doch wieder eingeredet hatte, ein reines Phantasiebuch gelesen zu haben. Und jetzt das: ein Verwundeter, ein echtes Opfer des Zorns der Feuerschlucker, der mit den anderen Varduriern an diesem Betonfluss Unterschlupf suchen musste.
»Diese flammenschluckenden Bastarde!«, rief Brandon aus, so wie es der Held der Saga, der edle Prinz Goo-han, oft tat.
»¿Qué dices?« , fragte Araceli. »¿Bastardos?« Auf einmal fing der Elfjährige an, mit Schimpfwörtern um sich zu werfen. Kaum ist er ein paar Stunden aus dem Haus und draußen in der Welt, da ist er schon verdorben.
»Ich meine die Feuerschlucker«, sagte Brandon in einem geduldig erklärenden Tonfall, denn ihm war schnell klar geworden, dass Araceli die Bücher nicht gelesen hatte – sie waren schließlich auf Englisch. »Die Feuerschlucker haben diese Menschen zu Flüchtlingen gemacht. Sie haben ihre Städte und Häuser zerstört. Deshalb sind sie geflohen und leben jetzt hier am Fluss. Das habe ich in Die Rache der Flussläufer gelesen. Die Feuerschlucker haben ihre Stadt Vardur niedergebrannt, weil sie dem bösen König keine Treue schwören wollten. Also mussten sie am Flussufer Zuflucht suchen, aber ich hätte nie gedacht …«
»Estás loco« , sagte Araceli. »Du liest zu viel.«
Auch das hatte noch niemand zu Brandon gesagt: Im Hause Torres-Thompson war das Lesen eine heilige Handlung, die einzige Aktivität, die den Kindern ohne Beschränkung und ohne jede elterliche Aufsicht erlaubt war. Bücher waren machtvoll und gut, sie sprachen Wahrheiten aus, und Brandon beschloss, die Bemerkungen seiner vorübergehenden Aufsichtsperson zu ignorieren und stattdessen weiter das Lager der Vardurier zu betrachten und herauszufinden, welche Geheimnisse es noch zu entdecken gab. Brandons Erinnerung reichte nur bis wenige Jahre vor ihrem Umzug in die Laguna Rancho Estates zurück, und seine Vorstellung, wie ein Haus auszusehen hatte, war stark von der Gleichförmigkeit seiner Wohngegend geprägt – die von der Eigentümergemeinschaft genehmigte Farbpalette, die standardisierten Einfahrtmaße. Dort unten war jede Hütte jedoch völlig
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