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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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Zange erkennen. Der Mann hielt die Tüte dicht an den Körper gepresst, im Raum zwischen seinen Beinen und der Metalllehne des Sitzes vor ihm. Keenan spürte: Was der Mann in dieser Tasche hatte, war sehr wichtig für ihn. Diese Menschen tragen ihren Besitz in denselben Plastiktüten durch die Gegend, in denen meine Mutter oder Araceli ihren Einkauf nach Hause bringen. Er war erst acht, aber ihm entging nicht, wie traurig es war, dass arme Menschen ihre Habseligkeiten in Plastiktüten an ihren müden Leib drückten. Zum ersten Mal in seinem jungen Leben spürte er eine abstrakte Art von Mitleid für die Fremden um ihn herum. »Es gibt eine Menge bedürftige und hungrige Menschen auf der Welt«, pflegte seine Mutter zu sagen, meistens dann, wenn er beim Abendessen den Teller nicht leer aß, aber das war wie die Geschichte vom Weihnachtsmann, man sah sie so selten. Er hatte geglaubt, »die Armen« und »die Hungrigen« seien zwergenhafte Wesen, die am Rand von Einkaufszentren und Supermärkten lebten und den Müll durchwühlten. Jetzt begriff er, was seine Mutter meinte, und beschloss, den nächsten Teller Fischstäbchen, der ihm vorgesetzt würde, restlos leer zu essen. Zwei Fahrgäste vor ihm sprachen Spanisch miteinander, was seine Aufmerksamkeit weckte, weil er fast alles verstand, was Araceli in dieser Sprache zu ihm sagte. Doch ihr Gespräch war durchsetzt mit einem unverständlichen Gewirr von neuen Hauptwörtern, seltsam konjugierten Verben und bildlichen Ausdrücken, weshalb er nur gelegentlich ein Wort verstand: »es muy grande«, »domingo«, »fútbol« und »el cuatro de julio« .
    »Nos bajamos en la próxima« , sagte Araceli beim Aufstehen. »Nächste Haltestelle. Wir steigen aus.«
    Sie traten aus dem Bus auf den Bürgersteig, die Tür schloss sich mit einem Klappern und einem hydraulischen Ächzen hinter ihnen. Araceli nahm die gelbgraue Hitze und die tief stehende Sonne wahr, die durch die innerstädtische Dunstglocke brannte. Lebt wohl, ihr blauen Himmel und Meeresbrisen von Laguna Rancho , dachte sie. Das hier war schon eher wie die Schüssel, die über der maschinenheißen Luft ihrer Heimatstadt hing: Sie hatte ganz vergessen, wie sich die reglose und unschöne Atmosphäre einer richtigen Stadt anfühlte. »Wir gehen. Da lang«, sagte Araceli und zeigte Richtung Süden, eine lange Straße hinunter, quer zu derjenigen, auf der sie vom Bus abgesetzt worden waren. Die vier Spuren liefen schnurgerade auf eine ferne Reihe Palmen zu, die immer kürzer wurden, bis sie nur noch Zahnstocher waren, die der Dunst verschluckte.
    »Das sieht gar nicht aus wie die Gegend, wo Großvater wohnt«, sagte Brandon.
    »Ist es in der Nähe?«, fragte Keenan.
    » Sí. Nur ein paar Straßen.«
    Die Haushälterin und die Jungen standen allein auf einem leeren Stück Gehweg, das nur von der Bushaltestelle mit Bank und Schutzdach unterbrochen wurde. Wie seltsam, dachte Araceli, ein Block ganz ohne Menschen, genau wie am Paseo Linda Bonita, aber diesmal mitten in einer alternden Stadt, wo die Gebäude aus dem letzten Jahrhundert stammten. Die Geschäfte hatten alle die Rollläden heruntergelassen, Schlösser so groß wie Apfelsinen hingen vor den Stahltüren, und von den Plakatwänden auf den Dächern provozierten dunkelhäutige Männer die vorbeikommenden Autofahrer mit ihren Posen, mit den Fingern, die sie besitzergreifend um hellhäutige Frauen, Bier- oder Schnapsflaschen gelegt hatten. Einen Augenblick glaubte Araceli, Brandon könnte recht haben, womöglich wohnte el viejo tatsächlich woanders. Andererseits wusste man in Los Angeles nie, was einen hinter der nächsten Ecke erwartete. In einem Moment stand man vielleicht in der stillen, sonnigen Einsamkeit an einer Straße wie dieser und im nächsten schon im Schatten von Bäumen und vor glitzernd neuen Wohnblöcken. Mexiko City war da ganz ähnlich.
    Wieder klackerten die Rollkoffer der Jungen auf dem Gehweg, als sie südwärts gingen. »Das sieht gar nicht aus wie da, wo er wohnt«, wiederholte Brandon zu Aracelis Ärger. »Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass es nicht hier ist.«
    »Nur ein paar Straßen weiter«, beharrte sie. In ein paar Minuten wäre sie die Sorge um die beiden los, der Druck würde von ihren Schläfen weichen. Der Großvater würde aus seiner Tür treten, sie würde ihm die Geschichte vom Couchtisch und dem leeren Haus erzählen, er würde ihnen ein frühes Abendessen servieren, und das war es dann. Sie gingen weiter und wurden von den

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