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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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Großvater hier wohnt«, sagte Brandon wieder, und diesmal würdigte Araceli ihn keiner Antwort.
    Zwei Straßen weiter kam endlich das Schild »39th Street«, das Aracelis Torheit bestätigte: Hier, wo das Foto und der Straßenname sie hingelockt hatten, standen ein paar himmelblaue Doppelhausbungalows, ein paar Wohnungen in zweistöckigen Schindelhäusern, vor denen weiße Farbsplitter wie Schneeflocken auf dem Boden herumlagen. Die Adresse gehörte zu einem Bungalow, dessen Eingangstür an der Seite auf einen kleinen Hof hinausging. Araceli holte das alte Foto aus Maureens Rucksack und verglich den Bungalow hinter dem alten Torres mit diesem Gebäude: Die Fenster waren jetzt vergittert, die alte Fliegengittertür war durch einen Schutzschild aus Lochstahl ersetzt, aber es war dasselbe Haus. Zusammengenommen waren die beiden Ansichten – alt und neu – ein Kommentar zur Grausamkeit der vergehenden Zeit und zu Aracelis Unwissenheit in Bezug auf die Lokalgeschichte. Nach diversen Fußmärschen, Bus- und Zugfahrten hatten sie ihr Ziel erreicht, und es war eindeutig, dass el abuelo Torres hier nicht mehr wohnte, nicht mehr wohnen konnte, denn hier schrie alles »Armut« und »Lateinamerika«, vom rollenden Schreibtischstuhl, der mitten auf dem Hof zwischen einem Haufen Zigarettenkippen stand, bis zu den Reggae-Klängen, die aus einem der Bungalows pulsten.
    »La fregué« , murmelte Araceli vor sich hin, worauf beide Jungen verwirrt zu ihr aufblickten.
    »Ist es hier?«, fragte Brandon. »Ist das die Adresse?«
    »Sí. Y aquí no vive tu abuelo.«
    »Nein, hier wohnt er nicht«, sagte Brandon. »Sein Haus ist in einer gelben Wohnanlage mit viel Rasen davor. Und da gibt es nicht so hässliche Häuser wie das da drüben.«
    »Und was jetzt?«, fragte Keenan.
    Araceli hörte, wie hinter der Sicherheitstür des Bungalows direkt vor ihnen eine zweite, innere Tür aufging. »¿Se le ofrece algo?« , fragte eine Frauenstimme durch den Lochstahl.
    Araceli ging zur Tür und hielt das Foto hoch. »Estoy buscando a este hombre« , sagte sie. »Vivía aqui.«
    Die Frau hielt eine mexicana mit zwei kleinen Jungen für ungefährlich, öffnete die Stahltür und nahm das Bild entgegen. Sie war eine verdrossene Bewohnerin um die dreißig, deren glatte Haut und länglich geschwungene Augen wie aus Speckstein geschnitzt wirkten. Ihre Nägel waren orangegelb lackiert, und ihr Haar wirkte seltsam keck und munter im Kontrast zu den Ringen unter ihren Augen, doch diese hellten sich rasch auf, als sie das Bild betrachtete.
    »¡Pero esta foto tiene años y años!« , rief die Frau aus und kicherte, als sie die schwarz-weiße Veranda erkannte und merkte, wie lange ihre Bruchbude mit den durchhängenden Bodendielen und dem aufgerollten Linoleum hier schon stand und dass man hier früher mal ohne den Einbrecherschutz hatte leben können – heute würde sie es ohne Gitter an den Fenstern nicht mehr aushalten. Sie gab Araceli das Foto zurück und warf ihr und den Jungen denselben abschätzigen Blick zu, mit dem sie auch die ernsten jungen Männer mit den schmalen Krawatten angeschaut hatte, die heute Morgen nach der salvadorianischen Mormonenfamilie gesucht hatten, welche ebenfalls in genau diesem Bungalow gewohnt haben sollte. »Ni idea« , sagte sie.
    Araceli stampfte frustriert auf die hölzerne Veranda. Ein ganzer Tag zu Fuß, in Bussen, in Zügen, von Haltestelle zu Haltestelle, Viertel zu Viertel – dafür? Seit sie aus dem Bus gestiegen waren, war die Sonne hinter die Häuser am Horizont gesunken, und der westliche Himmel nahm schon die Farben eines glühenden Ofens an. Sie schaute die Jungen an und überlegte, ob sie die ganze Strecke zurück zum Paseo Linda Bonita heute noch schaffen würden und wie schlimm die Jungen unterwegs wohl quengelten.
    Die Frau an der Tür spürte, in was für einer Lage Araceli war. »Ich glaube, ich kenne jemanden, der euch helfen kann.« Sie wechselte ins Englische, der Jungen wegen. » El negro. Der wohnt gleich hinter mir. Apartment B . Es heißt, er sei der älteste Mensch hier und dass er schon ewig hier wohnt.«
    Eine Minute später klopfte Araceli an die Stahltür, neben der ein B hing.
    »Wer zum Teufel ist da? Was klopfen Sie denn so laut, verdammt?« Hinterm Lochstahl ging eine Holztür auf, und Araceli sah den Schattenriss eines großen Mannes mit dicken Armen und leicht gekrümmter Haltung. »Ach du Scheiße. Wusste nicht, dass Sie Kinder dabeihaben«, sagte die Stimme. »Was? Was wollen

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