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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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entlanggingen. In mehreren Reihen gepolsterter Sessel mit hohen Lehnen saßen Jungen in Baseball-Kleidung und erschöpfte, sonnenverbrannte holländische und italienische Touristen mit Rucksackstapeln vor den Füßen. Im ungenutzten und abgesperrten Flügel des Bahnhofsgebäudes, wo früher Fahrkarten verkauft und jetzt die mit Eiche verkleideten Schalter gern als Filmkulisse genutzt wurden, packte gerade die Crew eines Musikvideodrehs ihre Ausrüstung zusammen.
    »Das hier habe ich schon mal im Kino gesehen«, sagte Keenan. »Ich dachte, das wäre nicht echt.«
    Sie traten durch einen Torbogen, der auch dem größten Troll oder Riesen ausreichend Platz geboten hätte, und dann aus dem Bahnhofseingang, wo sie das sommerliche Mittagslicht blendete. Autos und Fußgänger bewegten sich auf den Straßen und Bürgersteigen zielgerichtet nordwärts und südwärts. Hinter diesem beweglichen Vordergrund ragte die imponierende Kulisse von Downtown Los Angeles auf, die gläsernen Wolkenkratzer des Financial Districts, der gedrungene, mit einer Stufenpyramide abschließende Steinturm der City Hall, der aussah wie eine startbereite mesopotamische Rakete.
    »No, por aquí no es« , sagte Araceli und kehrte zurück in den Wartesaal. Die Jungen hasteten hinterher.
    Sie ging zum Informationsstand, zu dem großen, dünnen, sklerotischen Mann, der dort stand und den sein Namensschild als GUS DIMITRI, FREIWILLIGER auswies.
    »Wir suchen nach den Bussen«, sagte Araceli.
    Gus Dimitri war ein rüstiger Achtzigjähriger, in South Los Angeles geboren und alt genug, um sich zu erinnern, dass das heute schwarze und braune Getto früher einmal eine rein weiße Wohngegend für Griechen, Juden, Italiener, Polen gewesen war. Er hatte mehr von Los Angeles’ Geschichte miterlebt als jeder andere Angestellte oder Freiwillige in diesem Verkehrszentrum, und als er Araceli und ihre Schutzbefohlenen sah, begriff er sofort: Sie war eine Hausangestellte aus Mexiko, die dafür bezahlt wurde, sich um die beiden Kinder zu kümmern.
    »Wo wollen Sie denn genau hin, Ma’am?«
    Als die Frau in ihrem Rucksack nach der Adresse suchte, hatte Gus Dimitri Zeit zum Nachdenken: Diese Mode mit den Immigranten als Dienstboten war in Kalifornien wirklich extrem geworden. Ist das wirklich klug , hätte er die Eltern dieser Jungen gern gefragt, wenn Sie Ihre lieben Kleinen von so einer Mexikanerin durch die Großstadt lotsen lassen? Sie einer Frau anzuvertrauen, die schon an der Union Station die Orientierung verliert? Als Gus Dimitri in Rente gegangen war, hatte das mit den Einwanderern angefangen – vom Rasenmähen bis zum Hamburgerbraten, diese Leute machten heutzutage alles. Sicher, sie waren gute Arbeiter, konnten richtig schuften. Aber meine Güte: Wollten die Amerikaner denn überhaupt nichts mehr selbst machen? Als er so alt gewesen war wie der ältere Junge hier, da hatte er selbstständig Zeitungen auf der Straße verkauft und ein Vermögen verdient, indem er die Extrablätter zu den Kämpfen von Max Schmeling gegen Joe Louis auf dem Crenshaw Boulevard losschlug. Trugen amerikanische Kinder heute überhaupt noch Zeitungen aus? Seine eigene Zeitung wurde mit einem Pick-up geliefert, von einem Mexikaner (nahm er an) namens Roberto Lizardi, das stand jedenfalls immer auf der Weihnachtskarte, die einmal im Jahr in der Zeitung steckte.
    »Zur 39th Street«, sagte Araceli. »In Los Angeles.«
    »Da müssen Sie zurück auf die andere Seite«, sagte er. »Patsaouras Plaza.«
    »Vielen Dank.«
    Araceli machte kehrt und führte sie wieder in den langen, niedrigen Gang.
    »Wo gehen wir hin?«, fragte Keenan. »Wieso müssen wir wieder unter die Erde?«
    »Wir nehmen den Bus«, erklärte Araceli. » Tenemos que ir a la otra estación. Andere Haltestelle, nicht diese.« Sie kamen zu einer breiten Betontreppe und stiegen hinauf in ein sonnendurchflutetes Atrium mit mehreren Ausgängen. Dies war der Busbahnhof, doch Araceli konnte sich nicht mehr erinnern, welches Tor zu den Buslinien in das Viertel führte, wo el viejo Torres lebte. Sie steuerte wieder einen Informationsschalter an, und wieder schauten die Jungen neugierig auf, diesmal zum Wandbild hinter dem Schalter: Eine alte Dampflokomotive stampfte zwischen einer Reihe Obstplantagen auf ein Dorf inmitten von grünen Feldern zu und stieß dabei eine schwarze Rauchfahne aus. Links fuhr die Lokomotive auf einem zweiten Wandbild am blauen Band eines Flusses entlang, der sich an einer Stadt aus gedrungenen Gebäuden

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