In den Häusern der Barbaren
vorbeischlängelte; auf einem dritten Bild rechts glitzerten zahlreiche Wolkenkratzer in der Stadt, und der Fluss war zu einem Betonkanal geworden.
»Sah es hier früher so aus?«, fragte Brandon, ehe Araceli ihre Frage stellen konnte.
»Ja«, sagte der Mann am Schalter, ein Angestellter der Metropolitan Transportation Authority. »Und ich kann euch noch was erzählen – das wird euch echt umhauen. Wo wir hier jetzt stehen – das war mal Chinatown. Man hat hier drunter alle möglichen archäologischen Funde gemacht. Chinesisches Zeug.«
»Und was ist mit den Chinesen passiert?«
»Ach, das ist alles schon vor Ewigkeiten abgerissen worden. Platt gewalzt.«
»Das ist aber beunruhigend.« Brandon ahmte einen Satz nach, den seine Mutter häufig verwendete.
Während der Mann Araceli erklärte, welchen Bus sie wo nehmen mussten, dachte Brandon über Chinatown nach. Der Boden, auf dem er und sein Bruder standen, war älter als der älteste Mensch, den er kannte, wahrscheinlich älter als der älteste Vardurier, und diese Erkenntnis öffnete einem elfjährigen Jungen Horizonte. Wenn man nur tief genug grub, würde man sicher nicht bloß Chinatown, sondern auch die Überreste vieler anderer Städte und Dörfer der Vergangenheit finden, so wie in dem Bilderbuch in seinem Zimmer, wo man die Steinzeit, die Römerzeit, das Mittelalter und die Moderne alle auf demselben Fleck am Flussufer sah – wo Schlachten geschlagen und Häuser abgebrannt und Menschen begraben und Städte wiederaufgebaut und niedergerissen und wiederaufgebaut wurden, sobald man die Seiten umblätterte.
»Ya, vámonos« , rief Araceli. »Es por aquí.«
Die Jungen folgten ihr auf einen von mehreren parallelen Gehwegen, innerhalb von Sekunden hielt ein leerer Bus neben ihnen, und sie stiegen ein. Dieser Bus, bemerkte Brandon sofort, war eine abgekämpfte Version des ersten Fahrzeugs, das sie von den Laguna Rancho Estates weggebracht hatte. Er schien schon einige Hagelschauer überstanden zu haben, nach den Kratzern auf den Kunststoffscheiben zu urteilen, und als er aus dem schattigen Busbahnhof auf die sonnigen Straßen von Los Angeles steuerte und das Licht hereinfiel, fielen ihm auch die abgeschabten Sitze und die Kritzeleien auf der Inneneinrichtung auf. »Hier drinnen stinkt es«, erklärte Keenan. Ein schweißiges, leicht fäkales Aroma entstieg den Polstern, die saure Süße verschütteter Zuckerlimonaden hängte sich an die feuchten Luftmoleküle im Mittelgang, und diese Gerüche fuhren den ganzen Tag gratis kreuz und quer durch die Stadt.
Langsam rollten sie vom Busbahnhof weg auf Straßen, die sie näher an den Finanzdistrikt heranführten. Diesen Teil der Stadt hatten Brandon und Keenan schon oft in Begleitung ihrer Eltern gesehen, aber von weiter oben aus dem Familienauto, das auf der Hochstraße dahinbrauste. Das war das Los Angeles, das sie kannten, die Innenstadt, Heimat der Dodgers und der Lakers. Auf einer dieser Fahrten waren sie über das Herz von Los Angeles geglitten, auf Höhe der höchsten Palmwedel, hatten Museen und Parks besucht, irgendwo auf der anderen Seite dieses riesigen Gitternetzes aus verputzten Häusern und Asphaltstreifen, das sich bis zum Horizont in den Dunst erstreckte. Da Brandon diese Landschaft nun zum ersten Mal vom Boden aus sah, fiel ihm auf, dass alle Bauwerke offenbar aus nacktem Metall, Backsteinen und Beton errichtet waren, zu einfachen geometrischen Formen geordnet: die rechten Winkel der an die Masten geschweißten Ampeln, die offenen rechteckigen Münder der Gullys, der seltsame Turm auf einem Hausdach, der nur aus Dreiecken zusammengesetzt war. Seinen jungen Augen schien das alles so viel geradliniger, rauer und interessanter als die sanften Rundungen des Paseo Linda Bonita.
Keenan saß neben seinem Bruder am Gang und war daher den Fahrgästen näher, die nach wenigen Haltestellen den Wagen füllten und sich an der Haltestange über ihnen festhielten. Keenan hatte nicht gewusst, dass man in einem fahrenden Bus stehen konnte. Eine ältere Frau ragte neben ihm auf, eine Plastiktüte voller Umschläge und Dokumente in der Hand, und der schwere Inhalt schwang hin und her, wenn der Bus bremste und anfuhr. Jenseits des Ganges saß ein Mann mittleren Alters mit grünen Augen, der ebenfalls eine Plastiktüte festhielt. Seine wettergegerbten Hände wiesen zahlreiche kleine Schnittverletzungen auf, und durch den transparenten Kunststoff konnte Keenan zusammengefaltete Kleider, zwei dicke Bücher und eine
Weitere Kostenlose Bücher