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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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des alten Fotos entfernt waren, allerdings kamen inzwischen auch ihr ernsthafte Zweifel angesichts der ominösen Dreizehn, die überall auf die Wände und Bürgersteige gesprüht war. Zum ersten Mal hatte sie das beunruhigende Gefühl, dass ihr naiver Ausflug sie in eine Gegend führen könnte, in der Graffiti-Sprayer und Gangmitglieder unter der undurchdringlichen Smogglocke heranreiften, eine Art Brutstätte männlichen Fehlverhaltens. Jetzt kamen sie an einem großen, leeren Grundstück vorbei, kniehoch mit Seidenpflanzen bewachsen und voller Müll, wo zu Jugendzeiten des alten Torres das Kino »Lido Broadway« gestanden hatte. Als junger Mann hatte el abuelo Torres dort »High School Confidential!« gesehen, für das kurvenreiche Starlet Cleo Moore geschwärmt und von ein paar Afroamerikanern auf die Nase bekommen, weil ihnen seine Kommentare in der Matineevorstellung von »Die Saat der Gewalt« nicht gefallen hatten. Juan Torres und seine Eltern hatten damals noch zum Arbeiten aus der Stadt auf die Farmen fahren müssen, und sie hatten mit einigen anderen mexikanischen Familien unter Schwarzen gelebt. Juan kämpfte mit den schwarzen Jungs um die Mädchen. Hier aufzuwachsen, mit dem Geschmack von Blut im Mund, hatte sein Gefühl für die Hierarchie der Hautfarben geschärft. Er hatte eine genaue Vorstellung davon, wo er in die Pigmentpyramide passte, für die er die Vereinigten Staaten hielt: So dunkel wir auch sind, wir sind nicht ganz unten. Wenn er ein Glas Sangria oder Whiskey zu viel getrunken hatte, dann erwachte der streitsüchtige und vorurteilsbeladene Johnny Torres aus der 39th Street zum Leben. So wie bei Keenans sechster Geburtstagsparty, als er sehr laute Bemerkungen darüber gemacht hatte, wie hellhäutig und »gut aussehend« sein jüngerer Enkel sei – »ein richtiger weißer Junge, der Kleine« –, und diese Worte hatten seine progressive Schwiegertochter veranlasst, ihn aus ihrem Heim zu verbannen.
    Hätte Araceli nicht zwei Kinder hinter sich hergeschleift, hätte sie es nicht so eilig gehabt, dorthin zu kommen, wo sie nicht mehr die Aufpasserin der beiden spielen musste, dann wäre sie vielleicht stehen geblieben und hätte sich Zeit genommen, den Schutt des Lido Broadway zu betrachten, ein halbes Dutzend Rohre, die aus dem rissigen Estrich ragten wie gereckte Hände im Klassenzimmer. Die Zeit arbeitete im Herzen der amerikanischen Städte aggressiver als in den mexikanischen, wo koloniale Gebäude ohne Probleme Jahrhunderte überstanden. Hier jedoch knickten Stahl, Beton und Backstein schon zwei oder drei Jahrzehnte nach dem Moment ein, in dem man sie verlassen hatte. Die Menschen, die hier gelebt und gearbeitet haben, sind geflohen. Aber wovor? Am besten rasch weitergehen. Einen Block weiter sah sie eine Frau mit einer Kinderkarre und ein kleines Kind, das neben ihr lief, nur zweihundert Meter voraus, neben einem Schnapsladen mit einem Wandbild Unserer Lieben Frau von Guadalupe an der Seite.
    Araceli steuerte auf den Laden und die Madonna zu, und schnell kamen sie und die Jungen in eine Umgebung mit bewohnten Häusern, die meisten aus Holz, manche mit Eisenzäunen davor, hinter denen Rosenbüsche blühten. Eine Frau schlug einen Teppich an den Stufen einer Veranda aus, die zu einem zweistöckigen Gebäude mit vier Eingängen gehörte. Brandon bemerkte die seltsamen Zahlen über jedem Eingang – 3754 ¼, 3754 ½, 3754 ¾ –, und das erinnerte ihn an den Bahnsteig mit der seltsamen Nummer in einem berühmte Jugendbuch; er fragte sich, ob diese Türen wohl auch der Eingang zu einer geheimen Welt waren. Sie kamen an einem zweistöckigen Lattenbungalow vorbei, mit rostigen Gittern vor den Fenstern wie bei einem Gefängnis, und beide Jungen fragten sich, ob darin wohl die Bösen gefangen gehalten würden. Ein paar Häuser weiter kam wieder so ein Gebäude, diesmal ohne Gitter und mit frisch gestrichenen, korallenroten Wänden, in dessen Garten sich ein drei Meter hoher Orgelpfeifenkaktus reckte neben einem kleinen, sprudelnden Terrakotta-Springbrunnen mit einer Putte obendrauf. »Das ist ein hübsches Haus«, sagte Keenan. »Muy bonito« , fügte er hinzu, und Araceli dachte: Ja, wir müssen auf der richtigen Fährte sein, die Häuser werden auf einmal hübscher. Doch nur einen halben Block weiter sahen sie eine kastenförmige Pension, deren Fenster und Türen mit Sperrholz vernagelt waren, sodass sie wie ein Gesicht mit Knebel und Augenbinde aussah. »Ich glaube wirklich nicht, dass mein

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