In den Häusern der Barbaren
Autofahrern überholt, die auf diesem relativ freien Stück Straße alle Gas gaben und zu schnell waren, um die kleine Fußgängerkarawane wirklich zu bemerken: Der Junge mit der Rockstarmähne ging mit skeptisch gerunzelter Stirn voran, gefolgt von einem kleineren Kind und einer kräftig gebauten Mexikanerin, die auf die Straßenschilder schaute. Es war wenige Minuten vor fünf, und die Fahrer wollten so weit wie möglich kommen, ehe die Skyline im Norden alle Sachbearbeiter, Analysten, Vizedirektoren, Caféangestellten, PR -Spezialisten, Verkaufsgenies und andere Lohnsklaven ausspuckte. An diesem Mittsommertag fuhren die meisten Autos mit geschlossenen Fenstern, während drinnen künstlich kalte Bergluft wehte, lediglich im Toyota Cressida von Richter Robert Adalian funktionierte die Klimaanlage nicht. Er war Richter im nahe gelegenen Betonbunker des kommunalen Verkehrsgerichts von Los Angeles für den Central District. Richter Adalian hatte die Fenster offen, als Araceli, Brandon und Keenan vor ihm an der Ecke 37th Street und South Broadway über die Straße liefen. Auf dem Weg nach Norden hatte ihn das seltene Rotlicht der Fußgängerampel aufgehalten; er nahm jeden Tag die Nebenstrecke Broadway, um den Harbor Freeway zu vermeiden. Diese Fußgänger hatten auf den Knopf gedrückt und seine grüne Welle unterbrochen, und Richter Adalian wunderte sich beim Anblick der seltsamen Gruppe aus einer Frau, die eindeutig Mexikanerin war, und zwei Jungen, die es eindeutig nicht waren. Es ist gar nicht so sehr die Hautfarbe, die sie verrät, sondern ihre Haare und die Art, wie sie gehen und alles um sich herum betrachten, als wären sie Touristen. Diese Jungen gehören nicht hierher.
»Ich glaube, wir haben uns verirrt«, sagte der Größere.
»No seas ridículo, no estamos verirrt«, entgegnete die Mexikanerin, und der Richter gluckste belustigt, denn er war in Hollywood unter Guatemalteken und Salvadorianern aufgewachsen, und dieser kurze »spanglische« Satz der Frau hatte ihn in diese Zeit zurückversetzt: Vor zwanzig Jahren hatte man in seinem Viertel noch Spanisch hören können, ehe der Exodus aus der zerbrechenden Sowjetunion so viele Flüchtlinge aus der alten Heimat in die Gegend gebracht hatte (darunter auch seine spätere Frau), dass die Stadt Schilder mit der Aufschrift LITTLE ARMENIA aufstellte. Die Ampel wurde wieder grün, und der Richter ordnete die drei weit hinten in seinem Gedächtnis ein, neben dem anderen ungewöhnlichen Ereignis des Nachmittags: der Verurteilung eines früheren Seriendarstellers, dessen Karriere so kurz war und so weit zurücklag, dass sich nur der Richter daran erinnern konnte. Es hatte ihn deprimiert, dass er mit vierundvierzig älter war als sein Gerichtsdiener, sein Referent, seine Protokollantin, auch älter als der Verteidiger und der Vertreter der Staatsanwaltschaft. Nur der Angeklagte hatte ihn an Jahren noch übertroffen, und als Richter Adalian schließlich begriff, dass niemand im Gerichtssaal den Beitrag dieses Mannes zur Fernsehgeschichte kannte, da hatte der zweiundfünfzigjährige, wegen Trunkenheit am Steuer angeklagte Schauspieler den Richter angeschaut und in einer Art geteilter Generationenmüdigkeit die Augenbrauen hochgezogen. »Die Zeit vergeht«, hatte der Angeklagte gesagt, und auch dies war dem Richter in Erinnerung geblieben, denn die Alkoholiker, die täglich vor ihm erschienen, hatten selten Weisheiten zu verkünden. Die Ampel wurde grün, der Richter glitt weiter nach Norden und konnte nicht ahnen, dass seine Begegnung mit dem verblühten Schauspieler sowie mit der Mexikanerin und den beiden »weißen« Jungen ihm später einmal einen Auftritt im Kabelfernsehen einbringen würde.
Auf der anderen Straßenseite wandte Araceli sich nach rechts. Brandon ging jetzt hinten, denn er fand, er müsse seinen kleinen Bruder beschützen, falls irgendein Monster oder ein Feuerschlucker aus einem der verrammelten Läden auftauchte.
»Schau niemandem in die Augen, Keenan«, sagte Brandon.
»Was?«
»Das ist eine gefährliche Gegend hier.«
»Du hast mir gar nicht zu sagen, was ich tun soll.«
»In diesen Häusern könnten böse Typen stecken«, beharrte Brandon. »Schau dir diese Zeichen an. Das ist eine böse Zahl. Dreizehn.«
»Wirklich?«, fragte Keenan. Einen Augenblick lang sah er die Welt wie sein Bruder und glaubte, die XIII müsse eine Art Kriegercode sein.
Der Verstand sagte Araceli, dass sie nur noch zwei Straßen von der Adresse auf der Rückseite
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