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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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die Wüste zu ziehen. Hier in der 39th Street konnte Sweet Hands immer noch in den Bus steigen und zum einzigen Laden in South Los Angeles fahren, wo man Buffalo Fish nach Louisiana-Art bekam, und vielleicht traf er auch zwei oder drei Alteingesessene, mit denen er über Baseball reden konnte, über Duke Snider und Roy Campanella und über das Spiel der Los Angeles Angels gegen die Yankees, das er 1961 im alten Wrigley Field gesehen hatte, nur ein paar Schritt entfernt am 42nd Place. In Lancaster gab es keinen Buffalo Fish, da war es staubtrocken, da konnte ein Mann aus Louisiana nicht leben. Zur 39th Street hingegen kamen manchmal an einem feuchten Sommermorgen die Möwen und kreisten über den Mülltonnen hinter der Kleiderfabrik, wo die Taco-Imbisswagen ihre unverkäuflichen Reste abluden. Wenn Sweet Hands die Augen schloss und dem Kreischen der Möwen lauschte, konnte er das Meer sehen.
    »Ja, an den Kerl kann ich mich erinnern«, sagte Sweet Hands schließlich. »Er hat genau da gewohnt. Wo jetzt Isabel und ihre Kinder wohnen. Ist aber vor einer Ewigkeit ausgezogen. Ich glaube, raus in die Wüste. Oder nach Huntington Park. Eine Zeit lang war Huntington Park total angesagt. Jede Menge Leute von hier sind nach Huntington Park gezogen, vor allem nachdem Ford da die Fabrik gebaut hat …« Damit reichte er der niedergeschlagenen Araceli das Foto zurück. »Tut mir leid.« Leise schloss er die Tür und kehrte zu seinen Dodgers zurück, während Brandon und Keenan, immer noch auf Zehenspitzen, einen Blick auf den Fernseher zu erhaschen versuchten.
    »Und was machen wir jetzt, Araceli?«, fragte Keenan, als sie zur Straße zurückgingen. Die Frage hallte auf Spanisch durch Aracelis Kopf: ¿Y ahora qué hacemos? Araceli schaute die 39th Street entlang, zum Ende des Weges, den sie zurückgelegt hatten. Bis sie zur Bushaltestelle kämen, wäre es dunkel, und sie hatte das Gefühl, in der Dämmerung durch diese Gegend zu laufen wäre womöglich noch schlimmer, als die Kinder in Pflege zu geben. Das Klügste wäre wahrscheinlich, vom nächsten Münztelefon aus die Notfallnummer 911 anzurufen. »Vielleicht sollten wir zu diesem Huntington Park fahren«, meinte Brandon. »Das klingt schon eher nach der Gegend, wo Großvater lebt … nah bei einem Park.« Nach diesem absurden Vorschlag fühlte Araceli sich nur noch verzweifelter. Ich bin die Frau, die sauber macht! Wütend zog sie die Bluse herunter, die sich ständig hochschob, seit sie das Haus verlassen hatten, und ließ sich auf den Bordstein sinken. Die Jungen taten es ihr nach, ihre Tennisschuhe mit den Klettverschlüssen standen neben Aracelis abgestoßenen weißen Schwesternschuhen.
    Ihre Rücken- und Beinmuskeln verspannten sich in der ungewollten Nähe zu den Jungen. Wieso seid ihr so verwöhnt und hilflos? Wieso habt ihr nicht eine einzige Tante oder einen Onkel in der Nähe, wie alle anderen Kinder auf der Welt? Sie musste eine Entscheidung treffen. Waren 250 Dollar in einem Umschlag jede Woche genug, um diesen Marsch quer durch die Stadt zu rechtfertigen? Sie schaute über die Straße nach rechts und entdeckte eine Telefonzelle. Wenn sie einfach direkt in einem Heim anrief, kriegte sie vielleicht die Pflegeleute ohne die Polizei her. Und dann wäre ich frei. Weiter links drängten sich untersetzte Männer und Frauen vor einem fahrenden Taco-Imbiss, eine schwatzende Menge, die wohl auf den Schichtwechsel in der Kleiderfabrik wartete. Hinter ihnen erkannte sie eine Laderampe, deren großes Tor einen riesigen Innenraum zeigte, mit niedrigen Decken und bläulichem Licht, in dem Motoren metallisch keuchten und ächzten. Diese Jungen aus dem Zimmer der tausend Wunder wussten nichts von der Welt der gefährlichen Maschinen und der Stadt der dunklen Gassen um sie herum. Nachdem das Schicksal sie nun als einzige Aufsichtsperson so eng an die beiden gekettet hatte, spürte Araceli auf einmal die ungeheure Distanz, die ihr Leben von dem der Jungen trennte. Ich gehöre zum Stamm der Putzmittel, der Besen, Macheten und Schaufeln, und sie sind vom Volk der Stifte und Tastaturen. Wir sind die Menschen, deren Haut von der Sonne verbrannt wird, sie hingegen arbeiten unter Neonlicht und schmieren sich mit Schutzcreme ein, wenn sie sich nach draußen wagen. Tiefer südlich, jenseits der gnadenlosen Stadt, gab es felsige Landstriche, wo Männer Tunnel unter Stahlzäunen gruben, gab es Wüsten, wo Kinder um Wasser bettelten und ihre Väter fragten, ob der nächste Hügelkamm der

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