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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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letzte sei, und die weinten, wenn die Antwort Nein war. Von solchen Schrecken wussten Brandon und Keenan nichts, Araceli jedoch hatte sie bereits durchstanden, und sie fragte sich, wie viele Narben die Jungen wohl von ein oder zwei Nächten oder vielleicht einer Woche oder einem Monat in Pflege davontrügen – die sie sich als eine Art Vorhof dieser dunklen und gefährlichen Welt vorstellte. Vielleicht ist die Unschuld eine Haut, die man abstreifen muss, damit eine neue Schutzschicht wächst, die gegen die ätzenden Wahrheiten der Welt taugt. Sie fragte sich, ob sie am Beginn eines neuen Zeitalters lebte, wo die Bleichen und Behüteten anfingen, unter den Dunklen und Bedrängten zu leben, den zornigen Massen aus dem Süden.
    Hinter ihnen ging eine Tür auf, Araceli und die Jungen wandten sich um und sahen die Frau aus dem ersten Bungalow die Stufen herunter- und auf sie zukommen, drei kichernde Kinder im Schlepptau.

13 Isabel Aguilar schob den Vorhang zur Seite und spähte zu den verirrten Fremden hinaus. Ihr kleines Wohnzimmer war gleichzeitig das Schlafzimmer ihres Sohnes und des anderen Jungen, der bei ihr lebte. Die drei Fremden saßen auf dem Bordstein, zwei weiße Jungen und eine übel gelaunte mexicana . Begegnungen mit desorientierten Reisenden waren in der 39th Street nichts Ungewöhnliches. Isabels Bungalow lag am Rand eines Bezirks voller Maschen- und Stacheldrahtzäune, mit Jobangebotsschildern auf Koreanisch, Spanisch und Kantonesisch, wo Stoffe in T-Shirts verwandelt, Stahlbleche geschnitten, Lösungsmittel gemischt wurden. Wenn verirrte Fußgänger vor Isabels Schwelle standen und auf die industrielle Szenerie blickten, die an ihrer Straße begann, dann merkten sie, dass sie am falschen Ort waren, klopften an ihre Tür und verzogen ihr Gesicht zu einem Fragezeichen: »¿Y la Main , dónde está?« »Wissen Sie, wo mein Homie Ruben wohnt?« »Haben Sie eine Ahnung, Schätzchen, wo ich das Postamt finde?« Isabel machte allen die Innentür auf, manchmal, um ihre Fragen besser zu verstehen, auch die Metalltür, obwohl sie hier als alleinerziehende Mutter lebte, mit zwei Kindern und dem anderen Jungen, der nicht ihr Sohn war. Sie war im Bezirk Sonsonate in El Salvador geboren worden, in einer Stadt also, durch die rostige Eisenbahnschienen liefen und deren zentraler Platz vom Wolkenpilzbaldachin eines einzelnen Kapokbaumes beschirmt wurde. Wenn dort die Nachbarn an die Tür klopften, dann wollten sie hereingebeten werden.
    Die kräftige Mexikanerin, die da auf dem Bordstein saß, ragte aus dem Heer der Orientierungslosen heraus, zum einen wegen des Fotos, das sie als Visitenkarte präsentiert hatte, ein Bild von Isabels Bungalow, bevor die Dielen abgesackt und die Fenster mit Stahl gesichert waren, und zweitens, weil die Kinder, die sie bei sich hatte, mit Sicherheit nicht ihre eigenen waren. Isabel entdeckte allerdings einen Hauch von Oaxaca oder Guatemala in der Hautfarbe der Kinder – vielleicht war sie ihre Tante oder Cousine. Die verwöhnte Neugier allerdings, mit der sie Isabel und ihr Haus betrachteten, war eindeutig nicht lateinamerikanisch. Sie erinnerten Isabel an die Kinder, die sie in Pasadena betreut hatte, als sie dort einen Sommer lang gearbeitet hatte – Jungen, die den Reichtum ausladender Häuser kannten, in denen die Türen nie verschlossen waren und die Bodendielen von Frauen wie ihr gefegt und gewischt wurden. Wieso schleifte die Mexikanerin sie in diese Gegend? Die einzigen Weißen, die man regelmäßig zu Gesicht bekam, waren Polizisten und der alte Mann, der die Miete kassierte.
    »Was guckst du dir da an?«, fragte der andere Junge hinter ihr. »Was machst du auf meinem Bett?« Er hieß Tomás, war elf Jahre alt und wohnte seit zwei Jahren bei Isabel, ihrem Sohn und ihrer Tochter. Der andere Junge war Waise und auf ihr Wohlwollen angewiesen, er hätte still und dankbar sein und sie so wenig wie möglich belästigen sollen, hielt sich jedoch nicht daran. Isabel drehte sich um und verzog grimmig das Gesicht, wobei ihre grau geränderten Zähne ein wenig sichtbar wurden.
    »¡Callate!« , schnauzte sie.
    Tomás zog die Brauen hoch, lächelte, wandte sich unbeeindruckt ab und wieder dem Film zu, den er mit Héctor anschaute, Isabels Sohn und Tomás’ allerbester Freund auf der Welt. Auch María Antonieta war bei ihnen, Isabels Tochter.
    Wieder spürte Isabel, wie ihre provinzielle Großzügigkeit sie zur Haustür und auf die Straße zog. Diese dörflichen Instinkte hatten ihr

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