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In den Häusern der Barbaren

In den Häusern der Barbaren

Titel: In den Häusern der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Héctor Tobar
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Sie?«
    »Ich suche nach diesem Menschen«, sagte Araceli.
    »Hä?«
    »Ich suche nach dem Mann auf diesem Foto. Er heißt Torres.«
    Der Mann machte langsam die Tür auf, streckte eine verwitterte Hand aus, nahm das Bild und schaute es hinter der Gittertür an. »Mann! Da werden Erinnerungen wach!«, rief er. Jetzt ging die Tür ganz auf, und der Mann schaute sich die Frau an, die da vor ihm auf den Verandastufen stand. Er war kahlköpfig und schwarz und trug an diesem Julinachmittag seltsamerweise einen Pullover. Als er die Tür ganz öffnete, drang ein Baseballkommentar heraus, und Brandon stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte hineinzuschauen. Der Mann aus Apartment B war sicher weit über siebzig, trotz des gebeugten Rückens aber immer noch ziemlich groß. Unter den Augen hatte er einige kleine Fibrome, weiße Bartstoppeln bedeckten seine Wangen.
    »Wer sind Sie? Sind Sie verwandt? Seine Tochter?«
    »Nein. Das sind seine, wie sagt man …?«
    »Er ist unser Großvater«, half Keenan.
    »Wissen Sie, hier sind eine Menge Leute ein- und ausgezogen, seit ich hier wohne.« James »Sweet Hands« Washington war Mitte des letzten Jahrhunderts als alleinstehender Mann hierhergezogen, weil ihn die Bungalows an die alten Bretterbuden im heimischen Louisiana erinnerten. Wo heute am Ende des Blocks eine Kleiderfabrik stand, war damals eine Autowerkstatt untergebracht gewesen, in der Sweet Hands ein paar Jahre gearbeitet hatte. Mit den Händen, die man »sweet« genannt hatte, zunächst wegen seines Umgangs mit dem Football, dann wegen seines Umgangs mit den Damen, hatte er Vergaser auseinandergenommen. Sweet Hands schaute sich das Foto an: Der Mexikaner trug eine Kakihose und stand so breitbeinig, wie man in den Fünfzigerjahre typischerweise gestanden hatte. Hinter ihm war der alte Bungalow zu sehen – sofort fühlte Sweet Hands sich in die damalige Zeit versetzt, als er selbst noch jung gewesen und gerade von den Fesseln der Südstaaten befreit worden war. Der junge Mann auf dem Foto sah ebenfalls befreit aus: Oder vielleicht war das auch nur das allgemeine Los-Angeles-Gefühl damals, in der Ära von Haarspray und Kleiderstärke, als die Stadt noch steif und knisternd war, glitzerte wie die frisch gewachsten V8-Cruiser, die mit zwanzig Stundenkilometern auf dem Central Boulevard entlangparadierten. Sweet Hands hielt das Bild lange in der Hand und gab schließlich ein kurzes Grunzen von sich, eine körperliche Kurzfassung der Gefühle, die seine unerwartete Begegnung mit der Vergangenheit ausgelöst hatte. »Johnny. So hieß er. Johnny irgendwas.«
    »Torres.«
    »Ja, genau. Johnny. Johnny Torres. An die Torres’ erinnere ich mich.« Es war eine der ersten mexikanischen Familien gewesen, die in diese Bungalows einzogen. Mexiko war noch ein fernes Land damals, bei dem Sweet Hands nur an Sombreros und Esel gedacht hatte, an dunkeläugige Schönheiten mit Zöpfen und langen Röcken, die bis auf die weißen Socken in ihren Lacklederschuhen fielen. Nachdem die Familie Torres ausgezogen war – es waren vier, glaubte er sich zu erinnern, Kaki-Johnny hier mitgezählt –, waren nicht mehr viele Mexikaner hergezogen, bis weit nach den Watts-Unruhen. In größeren Mengen waren sie dann in den Jahren vor den Rodney-King-Aufständen wieder aufgetaucht. Das war schon was, wenn man das Vergehen der Zeit an den Ausschreitungen messen konnte, die man miterlebt hatte, an den massenhaften Plünderungen und Brandstiftungen. Die schlimmen Zeiten vertrieben »seine Leute« in jeder Bedeutung des Ausdrucks: seine Familie, seine Mitexilanten aus Louisiana und die meisten anderen Söhne und Töchter Afrikas, die hier einst gelebt hatten. Seine Leute waren in die Wüste gezogen und hatten die Gegend den Mexikanern überlassen. An deren Haltung und dem Singsang ihrer Sprache (ohne dass er verstand, was genau sie sagten) merkte Sweet Hands, dass sie aus einer üppigen Landschaft stammten, so wie sein Heimatort Marion, hartnäckiges Grün und verschlungene Äste, wo der Regen Lieder auf die Blechdächer trommelte. Die Mexikaner brachten die entspannte, ausgelassene, tropische Atmosphäre des ländlichen Louisiana mit, und er hatte sie gern um sich, vor allem weil alle seine Verwandten raus nach Lancaster gezogen waren. Ein paarmal hatten seine Kinder und Enkel ihn in ihren sauberen, gebügelten Kleidern besucht und ihm gesagt: »Hier stinkt es.« Das reichte, um sie nicht wieder einzuladen – und ihren Bitten zu widerstehen, zu ihnen in

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