In den Häusern der Barbaren
andere Junge, Tomás. »Es gibt jede Menge Filme, wo Leute von den Toten zurückkehren.«
»Mit wem sollen sie denn kämpfen, wenn nicht mit der Hexe?«, fragte Héctor, und beide sahen Brandon an, denn in den zwanzig Minuten des gemeinsamen Filmschauens hatte er sich mit einigen Bemerkungen und Kommentaren bereits als Autorität auf dem Gebiet etabliert.
Brandon drehte den Kopf hin und her, was Ja und Nein bedeuten sollte. Der Film basierte auf einer siebenteiligen Buchreihe, die Brandon vollständig gelesen hatte, während der Thanksgiving- und Weihnachtsferien der vierten Klasse. Es war zwar schon über ein Jahr her, dass er den letzten Band beendet hatte, aber er konnte sich noch sehr genau erinnern. »Die Hexe ist wirklich tot, und sie kommt nicht wieder. Aber sie spielt auch in einem anderen Buch mit, das vor diesem hier kommt.«
»Ehrlich?«
»Ja.«
Brandon setzte zu einer geduldigen, detaillierten Wiedergabe der langen und verwickelten Abenteuer der Figuren im Film an, eine epische Erzählung, die sich um einen Apfelkern drehte, um den Baum, der daraus wuchs, ein Möbelstück, das aus dem Baum gefertigt wurde, und um verschiedene Zauberer, Professoren und Tiere mit seherischen Fähigkeiten. All das spielte sich in der Stadt London und an anderen Orten der wirklichen Welt sowie in einer magischen Parallelwelt ab. Brandon hatte auch über den realen Krieg gelesen, der den Hintergrund der Fantasysaga bildete, nämlich ein großes Bilderbuch namens Augenzeuge: Der 2. Weltkrieg , und er flocht ein paar Ereignisse daraus in die Geschichte ein, die er Tomás und Héctor erzählte. Die hörten schockiert, dass deutsche Flugzeuge britische Städte bombardiert und ganze Viertel in Schutt und Asche gelegt hatten. »Wie haben sie denn den Kindern da unten so was antun können?«, fragte Tomás, und Brandon entgegnete: »Keine Ahnung. Ist wohl so im Krieg, nehme ich an.«
»Das ist meinem Großvater im Krieg auch passiert, in Chalatenango«, warf Héctor ein, worauf die anderen Jungen innehielten und auf weitere Einzelheiten warteten, die er allerdings nicht zu bieten hatte. Héctor war schüchtern und kein geborener Geschichtenerzähler, und El Salvador war so weit weg, es hätte auch aus einem Fantasyroman stammen können; er war nie da gewesen und kannte das Land nur aus den Geschichten, die ihm sein Vater alle zwei Monate erzählte.
Brandon kam auf den Film zurück und erzählte, wie im Lauf von sieben Büchern klar wurde, dass die magischen und die realen Figuren ein und dieselbe Welt bewohnen – »nicht so wie im Film, wo sie in diesen Wandschrank müssen, um in die andere Welt zu kommen.« Dieses Detail teilte er Héctor und Tomás besonders genüsslich mit, weil es so gut zu seinen Eindrücken von den seltsamen Stadtbezirken passte, durch die sie auf der Hinfahrt gekommen waren. Sie waren in Los Angeles gelandet, in der Stadt, wo das Magische und das Reale, wo die Welten von Fantasy und Geschichte anscheinend parallel existierten. »Wusstet ihr, dass hier ganz in der Nähe Vardurier leben?«, fragte er seine neuen Freunde. »Die Feuerschlucker haben sie zu den Eisenbahngleisen und an den Fluss getrieben. Wusstet ihr das?« Tomás und Héctor wirkten ratlos: Die Bücher haben sie also auch nicht gelesen , merkte Brandon.
»Es passieren ja alle möglichen Sachen in dieser Stadt, aber von Feuerschluckern habe ich noch nicht gehört«, sagte Tomás und rieb sich nachdenklich das Kinn. Tomás wusste mehr über das echte Los Angeles und seine Launen als andere Jungen in seinem Alter. Für ihn war die Stadt ein gnadenloser Ort, beherrscht vom Realismus und von der Willkür der Erwachsenen. Er war Halbwaise (so nannte ihn Isabel jedenfalls manchmal, »un semi-huérfano« ) und ein gewiefter Überlebenskünstler, seine Eltern waren Sklaven der kolumbianischen Drogenmafia und hatten ihn nacheinander durch einige der verkommensten Absteigen der Stadt geschleppt. Seine Akte im Jugendamt von Los Angeles war zehn Zentimeter dick, mehrere Mappen mit alarmroten Reitern im Schrank eines Sozialarbeiters, der seine Spur ungefähr zu der Zeit verloren hatte, als er Isabel zufiel. Tomás war auf Zugdächern im südlichen Mexiko gefahren, hatte sich in Calexico ohne Fahrschein hinten in die Busse geschlichen und einmal die Notfallnummer 911 angerufen, als sein Vater an einer Bushaltestelle an der Main Street zu atmen aufhörte und die Augen nach hinten verdrehte. Diese Heldentat hatte ihm später von seinem wiederbelebten
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