In den Spiegeln - Teil 3 - Aion
belegen wir sie seit Jahrtausenden mit Eigenschaften und bewerten sie, je nachdem wie es uns gefällt oder wer uns gerade die Wahrheit ins Ohr flüstert.
Und je komplexer wir die Welt gestalten, desto komplexer erscheinen diese beiden Kräfte uns. Je weniger wir uns selbst verstehen, desto schwerer können wir sie begreifen.
Das gekippte geometrische Bild schien sich in meinen Geist einzubrennen. Dann — als hätte eine höhere Macht es entschieden — schoss es auf mich zu, oder vielmehr wurde ich in das leuchtende Muster hineingezogen.
Eine Reise begann. Raum und Zeit verdichteten sich um mich, als wäre ich in einem Geschichtslexikon gefangen, dessen Seiten jemand schnell unter seinem Daumen blättern lässt und nur sporadisch und scheinbar wahllos an einigen Stellen anhält.
Ich flog tiefer und tiefer und überquerte unbegreifliche Landschaften, architektonische Wunder, Bauwerke von sagenhaftem Detailreichtum. Die Farben des Himmels wechselten von tiefem Rot zu strahlendem Gelb und dann zu kaltem, dunklen Blau. Danach von einem sattem Orange zu giftigem Grün und schließlich zu einem erdrückenden Violett. Ich raste über Häusern und Gebäudekomplexen, die mir nicht einmal irdisch erschienen.
Dann sah ich die Wüste. Trockene Flussbetten und in Hitze flimmernde Felsbrocken. Eine Anhöhe. Dahinter Berge. In scharfen Kämmen ungeordnet, zeugen sie vom undurchsichtigen Plan der Natur. Doch davor die leibhaftige Ordnung zu Pferd. Der Signifer der römischen Legionäre umklammert den Bannerstab. Sein Kopf ist mit einem Bärenfell verziert. Unter seinen Händen rennen dünne Schweißrinnsale an dem hölzernen Stock entlang. Das raue Sonnenlicht bricht sich an den Helmen des versteinerten Gefolges. Sie sprechen nicht — sie atmen nicht. Worauf warten diese Recken, warum hält der Erste Speer die Hand über der Stirn, warum werden seine Augen zu dünnen Strichen und sein Mund hart und trocken, wie abgekühlte Lava?
Ich schütze mit der Hand meine Augen vor der Sonne und beobachte das stumme Schauspiel.
Die Pferde schnauben vereinzelt und wenden unruhig den Kopf hin und her. Der Erste Speer lässt seinen Blick entlang des Horizonts wandern. Er trägt einen purpurroten Umhang und seinen Bronzehelm schmücken dichte Federn. Sein Kinn ist stark, die Nase robust, der Körper geschützt von einem Brustpanzer. Die Füße stecken in genagelten Sandalen. Nur die Oberschenkel sind frei und drücken sich autoritär gegen die Flanken des Pferdes. Der Arm hält streng die Zügel, und sein Tier wagt kaum zu atmen. Er ist geduldig. Eine Gabe, die ihm die Jahre verliehen haben.
Hoch über uns, in der endlosen Bläue, schweben Geier. Ihre Schwingen sind ruhig und wölben sich an ihren Enden sanft nach oben. Auch ihre Geduld resultiert aus der Erfahrung der Jahre, der Jahrtausende. Sie wissen, wann es sich lohnt zu kommen. Sie häufen sich und werden mehr und mehr.
Der Primus Pilus wünscht sich einer von ihnen zu sein. Aus ihrer Höhe und mit ihren scharfen Augen könnte er bereits die Zukunft sehen.
Einer der Legionäre rutscht langsam und vorsichtig von seinem Pferd herab. Er geht auf mich zu, und unter seinen Sandalen knirscht das heiße Geröll.
Der Himmel verdunkelt sich und plötzlich wird die Welt um uns in eine kalte Nacht getaucht, die meine Umgebung wie die Oberfläche eines Mondes aussehen lässt. Die restlichen Reiter sehen wie dunkle Skulpturen aus. Die Planeten am Himmel, die Galaxien und Sternhaufen erscheinen nahe und zusammengerückt, wie ein unbegreiflich großes Planetarium. Mit offenem Mund betrachte ich die kosmische Schönheit in ihrer langsamen fließenden Bewegung. Ich fühle mich fremd in dieser Welt und gleichzeitig ein Teil von ihr. Einen Moment lang vergesse ich den römischen Soldaten vor mir.
Er starrt mich lange an. Die anderen Legionäre scheinen ihn nicht zu beachten, als ob auch seine Handlung für sie unsichtbare ist.
Ich erwidere seinen Blick, mustere seine geschnürten Sandalen, den glänzenden Helm und das kurze Schwert an seiner Seite. Noch immer glaube ich, dass er Objekt und ich Subjekt bin. Dass er nur eine Leinwand ist, ohne mich, den Zuschauer, sehen zu können. Doch etwas in mir ahnt den närrischen Irrtum.
Plötzliche teilen sich seine Lippen und eine sanfte Stimme erklingt: »Es gibt zwei Arten von Menschen in deiner Zeit. Es gibt jene, die glauben, dass sie alleine im Universum sind und somit im Mittelpunkt von Gottes Aufmerksamkeit stehen. Die zerbrechliche Pflanze
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