In der Brandung
Nichts zu denken wäre zweifellos das Beste gewesen. Aber das schnelle Gehen und die Konzentration auf die Bewegung verhinderten, dass seine Gedanken sich allzu sehr festhakten in seinem Kopf. Die Dinge kamen ihm in den Sinn, doch sie machten auch schnell wieder anderen Platz.
Die Tage und Wochen hatten wieder einen Rhythmus bekommen. Die Woche kreiste um die zwei Termine beim Doktor, Montag und Donnerstag. Der Tag kreiste um seine endlosen, hypnotischen Wanderungen.
Manchmal riefen Kollegen an und schlugen ihm vor, sich auf einen Kaffee oder eine Pizza zu treffen. Anfangs hatte er immer höflich abgelehnt, aber sie ließen sich nicht entmutigen, und mit der Zeit merkte er, dass es ihn weniger Mühe kostete, die Einladung anzunehmen, als sie abzulehnen. Er ertrug dann das fürsorgliche und umsichtige Verhalten des jeweiligen Kollegen so lange, bis er sich verabschieden und gehen konnte. Mitunter fühlte er sich, als halte er das Gleichgewicht neben einem Abgrund. Danach kehrte er nach Hause zurück, machte die Stereoanlage oder den Fernseher an und überbrückte so die Zeit bis zu seinen Tabletten und dem chemischen Schlaf.
Giacomo
Heute Nacht habe ich meinen Vater gesehen. Es klingt vielleicht nicht allzu erstaunlich, dass jemand seinen Vater sieht, selbst wenn es nachts ist.
Nur dass meiner tot ist.
Vor vier Jahren hat er nach einem Streit mit meiner Mutter das Haus verlassen und ist nicht mehr zurückgekommen. Ich habe erst viel später erfahren, dass er tot ist. Ich war damals siebeneinhalb.
Und jetzt habe ich zum ersten Mal, seit er weggegangen ist, von ihm geträumt. Im Traum lächelte er – was er sonst nur sehr selten tat –, und das erinnerte mich, ich weiß nicht, warum, an den Ausflug in den Zoo, den wir zu meinem siebten Geburtstag machten, dem letzten, den wir gemeinsam feierten.
Ich traf meinen Vater auf einer Allee, mitten in einem wunderschönen Park voller Wiesen und Bäume. Er kam auf mich zu und reichte mir die Hand, als wollte er sich mir vorstellen. Das kam mir zwar ungewohnt vor, aber als ich seine Hand schüttelte, war das ein gutes Gefühl, und es schien mir ganz natürlich. Mein Vater sagte nichts, aber ich verstand, dass ich mit ihm gehen sollte, und wir wanderten die Allee hinunter.
Nach ein paar Minuten (um die Wahrheit zu sagen, wusste ich nicht, ob es Minuten waren oder sehr viel mehr Zeit; im Traum ist das Zeitgefühl anders, als wenn man wach ist) kamen wir an einem großen Schäferhund vorbei. Er lag am Straßenrand im Gras und schlief. Als wir auf seiner Höhe waren, sprang er auf und lief mir entgegen. Er wedelte dabei mit seinem dicken Schwanz, ließ sich streicheln und leckte mir die Hände.
Es war eine außergewöhnliche Erfahrung, denn normalerweise habe ich Angst vor Hunden, und wenn ich einen auf der Straße sehe – vor allem, wenn es sich um einen Schäferhund oder ein ähnliches Ungetüm handelt –, bleibe ich ganz gewiss nicht stehen, um ihn zu streicheln. Ich genoss es sehr, keine Angst zu haben.
»Wie heißt er?«, fragte ich meinen Vater. Im selben Moment merkte ich, dass er nicht mehr da war.
Ich heiße Scott, Chef.
Diese Antwort tauchte in meinem Kopf auf und war ein Zwischending zwischen dem, was nur in meinen Gedanken existierte, und einer Schrift wie in einer Sprechblase.
»Kannst du sprechen?«
So genau kann man das nicht sagen, Chef. Du kannst mich ja nicht hören. Aber das ist meine Stimme.
Während er das sagte, bellte er mit einem sehr tiefen Ton, beinahe einem Brummen, das jedoch sehr beruhigend war. Und diesen Ton vernahm ich ganz deutlich. Es war sogar der einzige Ton, den ich außer meiner eigenen Stimme in dem ganzen Traum gehört hatte.
»Warum ist mein Vater weggegangen?«
Auf diese Frage antwortete Scott nicht.
Machen wir einen Spaziergang, Chef?
Mit diesen Worten setzte er sich in Bewegung, und ich folgte ihm, wenn auch ein wenig enttäuscht darüber, dass mein Vater nicht mehr bei uns war. Ich dachte aber, wenn ich ihm nun schon einmal begegnet war, würde ich ihn vielleicht auch wiedersehen, und dann würden wir uns auch unterhalten können.
Dafür, dass es ein Traum war, erschien mir alles sehr real: Ich spürte den frischen Wind auf meiner Haut, roch den Duft des Grases, und wenn ich in eine bestimmte Richtung sah, blendete mich das Sonnenlicht.
Da fiel mir plötzlich etwas ein, was ich schon lange vergessen hatte. Mein Vater hatte einmal gesagt, er wolle mir einen Hund schenken; ich müsse nur erst alt genug sein, um mich
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