In der Kälte der Nacht
Philosophie, Kriegskunst, Rassismus, Religion, Wahnsinn, Psychologie, Verhaltenslehre, das waren die Themen, zu denen er Bücher kaufte. Sam ahnte, die Deutschen, die Hitlers Befehle so bereitwillig ausgeführt hatten, waren keine einzigartigen Bösewichte. Seine Landsleute in Maine, in Massachusetts, in Louisiana waren der gleichen Grausamkeiten fähig, wenn die äußeren Umstände zusammenkamen. Sam schloß das Buch mit einem Knall. »Ich find's nicht.«
»Was suchst du denn?« Sam ging an der Bücherwand entlang, er hielt den Kopf schief. »Ein Soziologe führt eine Befragung in Black River durch. Ich kenne den Namen, ich habe eines seiner Bücher in der Bibliothek, aber ich find's nicht.«
»Ein Soziologe? Was will denn ein Soziologe in Black River?«
»Genau weiß ich das auch nicht. Kam heute früh in meinen Laden und stellte mir eine Reihe von Fragen. Der Mann kommt direkt aus Washington. Er hat sich für drei Wochen bei Pauline Vicker eingemietet. Der Mann sagt, Black River ist ein besonderer Fall.«
»Wieso denn?«
»Aus zwei Gründen. Zum einen, weil es eine Ansiedlung ist, deren Bevölkerung von einem einzigen Arbeitgeber abhängt, von der Sägemühle. So was gibt's heute gar nicht mehr, sagt er. Außer in Black River. Und dann ist da noch die isolierte Lage. Black River liegt so weit von der Zivilisation, daß man hier besonders gut den Einfluß des Fernsehens auf die Bevölkerung untersuchen kann. Na ja, der Mann hatte eine ganze Hand voll von Gründen parat, warum wir reif für eine soziologische Studie sind.«
»Wie heißt er?«
»Albert Deighton«, sagte Sam. »Ich muß gestehen, der Name sagt mir nichts. Aber ich hab' mich an das Gesicht erinnert. Sieht etwas schmächtig aus. Dünne Lippen. Geheimratsecken. Dicke Brillengläser. Ich weiß, ich hab' das Bild in einem Buch oder in einer psychologischen Zeitschrift gesehen.« Er seufzte. »Aber ich kann's nicht finden.« Er wandte sich um und sah Paul ins Gesicht. »Ich weiß, du möchtest meine Tochter ins fashionable Ultman's Cafe zum Lunch ausführen. Stimmt's?« Paul mußte lachen. »Warum nicht? Die Grippewelle ist vorüber. Das Schlimmste, was wir im Ultman's Cafe erwischen können, ist eine Speisenvergiftung.«
»Wie geht's den Kindern?« erkundigte sich Sam. »Mark ist bei der Familie Thorp eingeladen. Ich weiß jetzt schon, er wird nicht mit dem Jungen spielen, sondern mit der Mutter. Er ist unsterblich in Emma verknallt.«
»Die große Liebe seines Lebens, scheint es.«
»Ja, aber er mag's nicht zugeben. Schämt sich.«
»Und Rya, wo steckt die?«
»Sie ist zwar mit eingeladen bei den Thorps, aber ich glaube, sie würde am liebsten bei dir bleiben. Ich meine, wenn du nichts dagegen hast.«
»Mach dich nicht lächerlich, wieso sollte ich was dagegen haben.« Paul hatte sich aus dem Lehnsessel erhoben. »Warum läßt du sie nicht das Buch oder die Zeitschrift raussuchen? Du wirst sehen, sie bringt dir irgend etwas, wo der Name Deighton drauf steht.«
»Sie würde sich zu Tode langweilen.«
»Überhaupt nicht, das ist genau die Arbeit, die ihr Spaß macht. Bücher. Und außerdem mag sie gern in deiner Nähe sein.« Sam schien zu zögern. »Ich will es mir noch überlegen, ob ich sie drum bitte. Weißt du, ich würde mich gern etwas sachkundig machen über das Gebiet, auf dem dieser Deighton arbeitet. Du kennst mich ja. Wenn's mich einmal gepackt hat, gebe ich nicht auf, bevor das Ziel erreicht ist. Ich weiß, daß ich was von dem Mann gelesen habe.« Ultman's Cafe war ein Restaurant am Südwestzipfel des Ortes. Es war 24 Meter lang und sah aus wie der Wagen eines D-Zugs. Aluminium und Glas. Es gab ein Fensterband, das um das ganze Restaurant herumlief. Die Nischen waren mit blauem Plastik ausgepolstert. Auf jedem Tisch standen ein Ascher, ein Zuckerfaß, Pfeffer und Salz, ein Behälter mit Papierservietten und eine Wählautomatik für den Musikautomaten. Es gab zwei Reihen von Nischen, dazwischen verlief ein Gang. Ogden Salsbury hatte in der letzten Nische Platz genommen. Er hatte sich soeben die zweite Tasse Kaffee bestellt und betrachtete die Gäste. Es war zehn vor zwei, die meisten Mittagsgäste waren gegangen. In einer Nische in der Nähe der Tür saß ein älteres Ehepaar, das sich über Politik unterhielt. Zwischendurch lasen die beiden in einer Zeitschrift. Bob Thorp, der Polizeichef des Ortes, hatte an der Theke Platz genommen. Er war gerade mit seinem Essen fertig geworden und scherzte mit Bess, der grauhaarigen
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