In der Kälte der Nacht
der von den Anglern benutzt wurde. »Wer zuerst beim Wagen ist, hat gewonnen«, rief Mark und rannte los. Nach wenigen Sprüngen war er hinter den Bäumen verschwunden. Rya ging neben ihrem Vater. »Das war nett von dir«, sagte er. Sie tat, als hätte sie ihn nicht verstanden. »Daß ich das Eichhörnchen für Mark gefangen habe? Aber das hat mir doch Spaß gemacht, Paps.«
»Du hast das Eichhörnchen nicht für Mark gefangen.«
»Für wen denn sonst?«
»Für dich selbst«, sagte Paul. »Aber als du gesehen hast, wieviel das Tier dem Jungen bedeutet, hast du's ihm abgegeben.« Sie zog eine Grimasse. »Du hältst mich wohl für eine Heilige, Paps. Wenn mich das Tier wirklich interessiert hätte, ich hätt's nie hergegeben. Nie.«
»Du bist schlecht im Lügen«, sagte er und lächelte. »Und das find' ich gut so.«
»Väter«, sagte Rya. »Väter.« Sie lief los. Er sah ihr nach, wie sie zwischen den Büschen verschwand. »Kinder!« rief er. Noch nie hatte er die beiden so liebgehabt wie heute. Seit Annie tot war, hatte er Rya und Mark viel Zeit gewidmet, viel mehr als vorher. Die beiden waren recht verscheiden. Rya verstand besser mit Menschen umzugehen, sie kannte sich aus in den Regeln. Sie war neugierig und voller Geduld. Es machte ihr Spaß, die Geheimnisse des Lebens nach und nach zu ergründen. Demgegenüber war Mark ein Junge, der schnell für ein Spiel zu begeistern war. Ein geborener Optimist, der gern lachte, der jeden Spaß mitmachte. Er war der Mensch, der die einfachen Freuden des Lebens genoß, während Rya mit mehr Reflexion, mit einem Schuß Skepsis an die Dinge heranging. Paul war glücklich, daß seine beiden Kinder ein Naturell mitbekommen hatten, an dem er, der Vater, seine Freude haben konnte. Er wußte, er würde die beiden lieben, bis der Tod sie trennte. Er war stehengeblieben. Der Tod. Annie. Als sie starb, hatte er einen Blick in den Abgrund getan. Alles war endlich. Leben war endlich, auch die Liebe. Seit dreieinhalb Jahren dachte er jetzt schon über dieses Problem nach. Eines Tages würde Mark sterben. Rya würde sterben. Er durfte sein Leben nicht auf der Vorbedingung aufbauen, daß es Mark und Rya gab. Er erschauderte, als der Gedanke Gestalt annahm. Ein Vorgefühl nahenden Unheils. Das Gefühl war fort. Das Kreischen eines Adlers war zu hören.
Paul warf einen Blick in die Runde. Dunkelheit. Grün. Das Wispern der Blätter. Wie töricht ich bin, dachte er. Ich benehme mich wie eine Frau, die sich die Karten legen läßt. Er begann zu laufen. Es war wichtig, daß er Mark und Rya einholte. Es war Viertel nach elf, und draußen schien die Sonne. Dr. Troutman hatte sich eine Zwischenmahlzeit auf dem Schreibtisch angerichtet. Zwei Brötchen mit Roastbeef, eine Orange, eine Banane, ein Apfel, etwas Pudding, eine Kanne geeister Tee, eine medizinische Fachzeitschrift. Er aß und las. Es gab zwei große Aufgaben, die er zu erfüllen hatte. Aufgabe eins: Er mußte gesund bleiben. Er war der einzige Arzt in Black River, die Leute brauchten ihn. Aufgabe zwei: Er mußte sich auf dem laufenden halten, was die Entwicklung der ärztlichen Kunst anging. Deshalb las er.Er wog 120 Kilo. Seinen Patienten verbot er, Übergewicht anzusammeln. Wurde er auf sein eigenes Gewicht angesprochen, sagte er: »Ich dick? Das ist doch nur gespeicherte Energie. Ich muß einen Vorrat an Energie haben, wenn mal wirklich was passiert. Eine Katastrophe oder so.« Tatsache war, er aß gern. Die Besuche beim Psychiater hatte er schon im Alter von dreißig Jahren eingestellt, es wäre schade gewesen, wenn der ihm das Essen ausredete. Als er sich in Black River niederließ, war die Begeisterung groß gewesen. Ein leibhaftiger Arzt in Black River. Es war den Leuten egal, ob der Arzt, der sie betreute, dick oder dünn war, schwarz oder weiß. Meinetwegen grün, aber Arzt. Er hatte das zweite Brötchen verzehrt, als das Telefon zu läuten begann. Er dachte nach, ob er abnehmen sollte. Andererseits, er war Arzt, der nachts zu den Patienten fuhr, wenn es sein mußte. Vor zwei Jahren hatte er sogar das Mittagessen stehengelassen und war zu einer Gebärenden gefahren. Er nahm ab. »Dr. Troutman.«
Die Stimme am anderen Ende kam kalt und klar. »Ich bin der Schlüssel, Dr. Troutman.«
»Ich bin das Schloß«, sagte Dr. Troutman ohne Zögern. »Sind Sie allein im Haus?«
»Ja.«
»Wo ist Ihre Sprechstundenhilfe Miß MacDonald?«
»Ich weiß es nicht. Zu Hause vermutlich.«
»Wann kommt sie wieder in die Praxis?«
»Eine
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