In der Mitte des Lebens
mich selbst – ununterbrochen nur ernst nehmen. Ich habe den Luxus, mir Zeit für mich zu nehmen. Meine Töchter sind selbstständig, ich
muss mich nicht ständig kümmern und sorgen, so sehr ich sie liebe und begleite. Freiheit wächst und durchaus auch Weisheit, hoffe ich. Ja, ich schaue
nach vorn, weiß, dass nicht mehr alles so locker und schnell gehen wird. Aber ich habe Freundinnen, mit denen ich darüber reden kann, auch über unsere
Verschiedenheiten, über Schwächen – und darüber können wir auch lachen. Und ich kann junge Frauen sehen, begeistert sein, wie wunderschön ein Minirock
bei ihnen aussieht – und mich doch auch wohlfühlen mit mir selbst. Was haben wir Frauen in Westeuropa auch für einen Luxus, heute so alt werden zu
dürfen! Wie viele Frauen in den Generationen vor uns und in Ländern des Südens heute beneiden uns darum. Ich bin froh, heute und hier als Frau leben zu
dürfen und bin gespannt aufs Altwerden … so Gott will und ich es erlebe. Bei all diesen Gedanken und dem Blick nach vorne ist mir das Engagement für
ein Sterben in Würde wichtig. Ich habe gerade erst die Fünfzig überschritten und kannsicher nicht genau nachempfinden, wie das mit
sechzig oder siebzig oder achtzig ist. Gerade in Zeiten des Jugendwahns gilt es, die Kunst des Alterns neu zu lernen. Da können wir auch andere Kulturen
bewusst wahrnehmen, die wesentlich mehr Respekt vor der Erfahrung des Alters haben, das Besondere dieser Lebensphase sehen. Aber die Erwartung dieses
Respekts kann nicht nach außen gerichtet werden, wenn ich ihn nicht für mich selbst entdecke. »Ich werde alt« will ich nicht nur mit Bedauern sagen,
sondern auch mit Dankbarkeit für das Gewesene und mit Freude am Jetzt und Hier, mit Heiterkeit, einer Wahrnehmung der Freiheit, der Offenheit, bewusst
zu fragen, wie ich diese Lebensphase gestalten will. Immer wieder zeigt eine Grenze, die ich erreiche, auch, dass es – vielleicht anders –
weitergeht.
Älter werden
Damals lebte in Jerusalem ein Mann namens Simeon.
Er war gerecht und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels
und der Heilige Geist ruhte auf ihm. 31
Alter als Alltag, die »dritte Lebensphase«, wird immer differenzierter erlebt und betrachtet. Schon ist von den »Jungsenioren« die
Rede, was wohl diejenigen meint, die zwar im Ruhestand, aber noch fit sind und vor allem Geld ausgeben können. Sie sind eine gefragte Zielgruppe, von
Reisen bis zu Konsumgütern. Die Sache mit dem Ruhestand aber ist beispielsweise in den USA derzeit eine ambivalente: Aufgrund der Bankenkrise werden für
viele ihre Ersparnisse nicht reichen, um sich zu versorgen. Immer öfter sind dort jetzt schon Menschen anzutreffen, die auch mit 75 noch erwerbstätig
sind. Das habe ich vor Kurzem in Atlanta erlebt: Ein sehr alter Mann packte meine Einkäufe in eine Tasche und brachte sie zum Auto. Mir war das
unangenehm, es fühlte sich falsch an …
Gleich nachdem in der Bibel von der Geburt Jesu erzählt wird, richtet das Lukasevangelium den Blick auf das Alter, das
Lebensende. Erzählt wird von Hanna und Simeon, die Jesus, den Säugling sehen: Er kam vom Geist getrieben in den Tempel, und als die Eltern das Kind
Jesus hereinbrachten, um nach dem Brauch des Gesetzes an ihm zu tun, nahm er es in seine Arme und lobte Gott: Nun entlässt du deinen Diener, Herr, nach
deinem Wort in Frieden; denn meine Augen haben dein Heil gesehen … Es war da auch eine Prophetin Hanna. … Sie kam zu derselben Stunde hinzu, lobte
Gott und sprach von dem Kind zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten. (Lukas 2,27ff.)
Da sitzen sie, zwei alte Menschen, wie sie es immer tun: warten, schauen mit Ruhe – im Ruhestand. Manche mögen diesen Begriff ja überhaupt nicht, ich weiß. Sie empfinden sich als aktiv und viele, wenn es körperlich möglich ist, sind das ja auch. Da gibt es eine Abwehr gegen den Begriff »Ruhestand«, oder »in Ruhe«, die schon signalisiert, dass jemand ein Problem hat. Der biblische Simeon lebte im Gegensatz zu vielen alten Menschen offenbar nicht in der Vergangenheit, nicht von dem, was war. Er lebte als Wartender, als Er-wartender. Genauso geht es der alten Hanna in dieser Erzählung – sie lebt in und von der Hoffnung, dass noch etwas kommen kann, dass sich das Entscheidende noch ereignen kann in ihrem Leben: Das ist eine neue Perspektive auf den Lebensabend! Nicht: Alles ist vorbei, jetzt kommt nur noch das Ende. Vielmehr: Das Schöne kann immer noch kommen, das, was ich mir
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