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In der Mitte des Lebens

Titel: In der Mitte des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot Käßmann
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wünsche, kann auch am Ende meines Lebens noch möglich sein und eintreten!
    In unseren Breitengraden wird das Alter fast ausschließlich negativ gesehen. Wir nehmen wahr, wie etwa die Bedingungen in der Pflege zum Teil dramatische Zustände bringen, es gibt berechtigte Angst vor dem Alter. Dabei lassen wir zwei Punkte außer Acht – Hanna und Simeon zeigen sie. Zum einen kann ich im Alter und mit der Weisheit des Alters manches in neuem Licht sehen. Etwa erkennen: Das, was ich so sehr ersehnt habe, ist ganzanders, wenn es denn kommt. Hannas Erwartungen an den Messias waren bestimmt andere, sehr wahrscheinlich hat sie einen mächtigen König erwartet, kein kleines Kind. Aber Altersweisheit weiß auch: Ich kann annehmen, was denn kommt. Nicht meine Forderungen und Erwartungen stehen im Vordergrund, vielmehr hat das Leben mich gelehrt: das, was kommt, aus Gottes Hand zu nehmen, ohne ständig zu ringen und zu hadern, dass es doch bitte ganz anders sein soll.
    Bei Simeon zeigt sich zudem auch eine gewisse Alterszufriedenheit oder auch Sattheit im Positiven. Sein Leben lang hat er gewartet, nun kann er in Frieden gehen. – Vor Kurzem ist der älteste Sohn einer meiner Schwestern Vater geworden. Als meine 86-jährige Mutter den kleinen Urenkel sah und streichelte, sagte sie, sie habe das Gefühl, nun könne sie abtreten, mit diesem Kind schließe sich doch irgendwie ein Lebenskreis. Mich hat das sehr angerührt. Ich bin überzeugt, viele Menschen in unserem Land sind so fixiert darauf, lange zu leben und ohne Leid zu leben und schließlich möglichst auch leidfrei zu sterben, dass sie solche Alterssattheit, solches Genug des Lebens ganz im Guten und Erfüllten gar nicht sehen können.
    Als ich mich vor Jahren mit dem evangelischen Theologen Heinz Zahrnt, für den ich 2003 die Trauerfeier gehalten habe, unterhielt, meinte er, ewiges
Leben in dieser Welt sei doch nun wirklich keine attraktive Vorstellung. Er konnte das mit großem Humor beim Essen ausführlich darstellen. Zahrnt hat
diesen Gedanken schriftlich so festgehalten: »Allein durch die Abschaffung des Todes entstünde noch kein ›ewiges Leben‹ – dadurch ergäbe sich nur eine
Fortsetzung des hiesigen Lebens in unaufhörlicher Dauer. Und wer vermöchte dies zu ertragen? Schon bald würden wir zum Augenblick nicht mehr sprechen:
›Verweile doch, du bist so schön‹, sondern uns den Tod mit allen Kräften herbeiwünschen. Für immer leben, das wäre nicht das ewige Leben – es wäre die
ewige Hölle.« 32 Ein wichtiger Gedanke ist das für mich. So ungern wir diese Welt verlassen, so sehr wir am
Leben hängen, so istdoch die Vorstellung, immer hier zu leben, merkwürdig und nicht wirklich verlockend. Es kann uns große innere
Freiheit geben, das zu sehen.
    Die beiden genannten Haltungen, die Erwartungen im Alter wie die Alterssattheit, bringen Konsequenzen mit sich. Wenn ich auch jenseits der Lebensmitte
davon überzeugt bin, dass das Gute in meinem Leben durchaus noch kommen kann, prägt das die Grundeinstellung, die ich dann im Alter habe. In den zurzeit
geführten Debatten um aktive Sterbehilfe erschreckt mich vor allem die hohe Zahl von Alterssuiziden. Altersdepression und Selbstmordgedanken betagter
Patientinnen und Patienten werden in der Gesellschaft offenbar eher übersehen und von Ärztinnen und Ärzten nicht ausreichend behandelt. Senioren sind
die Altersgruppe mit der höchsten Suizidrate, mehr als jeder zweite Selbstmord einer Frau wird von einer über 60-Jährigen begangen! 33 Wie können wir deutlicher machen, dass Pflegebedürftigkeit nicht mit Belastung gleichzusetzen ist, dass wir Menschen
auch schätzen und brauchen, dass sie eine eigene Würde haben, wenn sie auf Hilfe angewiesen sind? »Wenn ich alten Menschen täglich signalisiere, dass
sie eine Belastung sind und dass sie nicht zu finanzieren sind, dann ist das eine kollektive Aufforderung zum Selbstmord!«, sagt der Münchner
Pflegeexperte Claus Fussek. Vielleicht können wir Hanna und Simeon in diesen Debatten ja neu als Vorbilder entdecken, sich mit Altersweisheit und
gleichzeitiger Offenheit für Neues auch am Lebensende glaubensstark ganz in Gottes Hand zu begeben. Ihr Bild zeigt eine große innere Freiheit. Sie haben
ihr Leben gelebt, aber sie sind nicht verzagt. Sie bleiben gespannt auf das, was noch kommt. Sie strahlen durch die Jahrhunderte hindurch eine tiefe
innere Zufriedenheit aus. Altwerden als ein Freierwerden zu begreifen, das ist wahrscheinlich Teil der Kunst des

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