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In der Mitte des Lebens

Titel: In der Mitte des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot Käßmann
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leicht, schön und lustig, so genau auf sich selbst zu
     schauen und nicht ausweichen zu können. Aber ich mache auch die Erfahrung, dass das Alleinsein und die Konfrontation mit mir selbst mich ruhiger machen,
     sicherer, reifer. Ich lerne mich besser kennen, weiß immer besser, wie ich bin – weiß aber auch, dass das akzeptabel so ist, sogar gut. Ich weiß mich
     gehalten. Ich muss niemandem mehr etwas beweisen, ich weiß, wer ich bin mit meinen Schwächen wie mit meinen Stärken.
    Im fünften Kapitel des Johannesevangeliums wird von einem Mann erzählt, der seit mehr als 38 Jahren gelähmt ist. Er liegt an einem Teich, von dem bekannt ist: Wenn das Wasser sich bewegt, wird der Erste, der danach hineinsteigt, geheilt. Aber der Gelähmte hat niemanden, der ihm helfen würde, hineinzusteigen. Seit 38 Jahren. Wie bitter muss dieses Gefühl sein, ein bitteres Verlassensein von allen Menschen. Eine Einsamkeit, an der nichts Fruchtbares und Kreatives ist, die vielmehr ausstößt aus der Gemeinschaft. Krankheit wurde in jenen Zeiten oft als Strafe Gottes gesehen, sie führte selten zu diakonischem Handeln aus Mitgefühl, sondern eher zur Isolation.
    Eines Tages, so erzählt die Geschichte, kommt Jesus zu ihm und fragt ihn: »Willst du gesund werden?« Ich fand diese Frage immer merkwürdig. Natürlich will der Mann gesund werden, wer wollte das nicht! Er liegt doch an diesem Teich in der Hoffnung auf Genesung! Und merkwürdig ist auch, dass der Kranke nicht zu Jesus kommt, sondern umgekehrt – Jesus geht zu dem Gelähmten.Und die Antwort des Gelähmten lautet nicht: »Ja, ich will gesund werden!« – er sagt: »Herr, ich habe keinen Menschen«. Da wird deutlich, wie viel mehr ihn die Einsamkeit bedrückt als die Lähmung. Das Ausgeschlossensein macht ihm das Herz unendlich schwer. In dieser Erzählung wird Heilung schließlich möglich, weil Jesus ihn zurückholt in die Gemeinschaft.
    Mir fällt dabei auch auf: Wir dürfen uns auch nicht selbst isolieren. Tage des Alleinseins können gut tun, aber Alleinsein sollte nicht zur Abgrenzung oder gar Ausgrenzung führen. Es geht auch um uns selbst und wie wir mit dem Alleinsein umgehen. Nutzen wir es, um Klärungen herbeizuführen, Kraft zu tanken, Mut zu gewinnen, tut es uns gut? Es ist wichtig, zu wissen, wer ich bin, ich allein, um anderen auch frei und offen gegenübertreten zu können. Und gleichzeitig weiß schon die biblische Schöpfungsgeschichte: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei«. Zusammensein gehört zum Menschsein! Das gilt nicht nur für eine Zweierbeziehung! Vielmehr bereichert es auch eine Zweierbeziehung beziehungsweise eine Ehe, wenn Menschen vielfältige andere Kontakte haben.
    Das heißt: Es ist gut, mit sich allein sein zu können. So erfahre ich, wer ich selbst bin, setze mich mit mir auseinander, kenne mich selbst. Denn es gibt auch ein Weglaufen vor sich selbst, ein Flüchten in Aktivitäten. Das wusste schon Bernhard von Clairvaux, der im 12. Jahrhundert an Papst Eugen III. schrieb, dessen Lehrer und Freund er war:

    Wo soll ich anfangen? Am besten bei deinen zahlreichen Beschäftigungen. Denn ihretwegen habe ich am meisten Mitleid mit dir. Ich fürchte, dass du, eingekeilt in deine zahlreichen Beschäftigungen, keinen Ausweg mehr siehst und deshalb deine Stirn verhärtest. Dass du dich nach und nach des Gespürs für einen durchaus richtigen und heilsamen Schmerz entledigst. Es ist viel klüger, du entziehst dich von Zeit zu Zeit deinen Beschäftigungen, als dass sie dich ziehen und dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem du nicht landen willst. Du fragst, an welchen Punkt? An denPunkt, wo das Herz hart wird. Wenn also alle Menschen ein Recht auf dich haben, dann sei auch du selbst ein Mensch, der ein Recht auf sich hat. Warum solltest einzig du selbst nichts von dir haben? Wie lange noch schenkst du allen anderen deine Aufmerksamkeit, nur nicht dir selbst? Wer aber mit sich selbst schlecht umgeht, wem kann er gut sein? Denke also daran: Gönne dich dir selbst. Ich sage nicht, tu’ das immer, ich sage nicht, tu’ das oft, aber ich sage, tu’ das immer wieder einmal: Sei wie für alle anderen auch für dich selbst da, oder jedenfalls sei es nach allen anderen.

    Mir schickte jemand diesen Brief Bernhards von Clairvaux zur Einführung in das Amt der Landesbischöfin. Und ich muss sagen, über acht
     Jahrhunderte hinweg empfinde ich ihn als hilfreichen Rat. Solches Alleinsein, solches »dich dir selbst gönnen«, sind Stunden

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