In der Mitte des Lebens
so skeptisch wie andere. Sicher, Kommunikation geschieht zuerst und in aller Tiefe direkt, persönlich, von Angesicht zu
Angesicht. Aber in Emails beispielsweise vertrauen Menschen sich mir als Seelsorgerin an: In einer Email finden manche offenbar wie früher im Beichtstuhl
eher den Mut, einem anderen etwas mitzuteilen – hier muss ich ihm oder ihr nicht ins Gesicht sehen, finde aber Resonanz. Auch so entsteht offenbar eine
Art »Gemeinschaft der Heiligen«. So gibt es neben der Telefonseelsorge und ihrer so wichtigen Funktion inzwischen eine Chatseelsorge, die von immer mehr
Menschen in Anspruch genommen wird. Sie ist ein ständiges Angebot, das aus der Erfahrung entwickelt wurde, dass bei Großveranstaltungen, wie zum Beispiel
dem Kirchentag, Menschen das Angebot zur Seelsorge besonders intensiv wahrnehmen – wohl gerade wegen der Anonymität. Mir scheint, das ist eine gute
Möglichkeit dafür, dem, was wir als Beichte vor allem aus der Kirchengeschichte – katholisch erzogene Menschen vielleicht noch aus ihrer Kindheit –
kennen, auch eine neue Form zu geben. Die Menschen, die sich an die Chatseelsorge wenden, wissen, wer »auf der anderen Seite« sitzt, müssen also keine
Angst haben, dass ihr Vertrauen missbraucht wird. Und sie haben den Mut, über sich zu sprechen, weil gerade die Distanz es leichter macht.
Früher hatte der Begriff »Einsamkeit« durchaus auch einen positiven Klang. Für Künstlerinnen und Künstler galt Einsamkeit geradezu als Voraussetzung
für Kreativität. Und auch im religiösen Bereich ist Einsamkeit positiv besetzt: Jesus ging allein in den Garten Gethsemane, um zu beten und seinen Weg zu
finden. Eremiten lebten allein in Höhlen, um ihr Leben ganz Gott und demGebet zu widmen. Im Mittelalter meinte Einsamkeit daher eher ein
Identisch-Sein mit sich selbst, im Einklang stehen mit mir und dem Leben und dieser Form.
In der Mitte des Lebens kann es sein, dass ich plötzlich mit Einsamkeit konfrontiert bin. Bei den einen ist die Scheidung ihrer Ehe der Auslöser, bei
anderen der Tod des Partners oder der Partnerin, der Auszug der Kinder kann mich in Einsamkeit stürzen oder auch der Verlust des Arbeitsplatzes. In einer
Gesellschaft, die immer mehr allein Lebende kennt und in der diese Lebensform nicht als mangelhaft angesehen wird, ist eine solche Veränderung an sich
zunächst einmal kein Makel mehr: Das ist schon mal positiv.
Aber natürlich ist es richtig: Das Alleinsein will auch gelernt werden. Wer allein ist, muss ja nicht einsam sein. Ein Freund von mir, ein überzeugter
Alleinlebender, kann dazu einen ganzen Abend lang reden! Ich selbst lerne das Alleinleben gerade erst. Geheiratet habe ich an meinem 23. Geburtstag, dann
kamen nacheinander vier Kinder, da war der Beruf, die Ehe, der große Haushalt – und der Versuch, alles in einer Balance zu halten, trotzig und trotz
allem, sozusagen, den eigenen Weg zu gehen. Jetzt empfinde ich es manchmal als Erleichterung, dass ich auch allein sein kann, mich auch mal ganz
zurückziehen kann – im Häuschen einer Freundin am Timmendorfer Strand zum Beispiel, wo ich an diesem Buch schreibe. Es gibt beides: einsam sein, ohne
allein zu sein und allein sein, ohne Einsamkeit zu spüren.
Darum scheint es mir entscheidend, Einsamkeit und Alleinsein zu unterscheiden. Einsamkeit ist ein Verlassensein von anderen Menschen; der Begriff hat
für uns heute einen bitteren Zug. Sicher ist es eher das Alleinsein, das in der religiösen wie der künstlerischen Erfahrung als positiv und kreativ
wahrgenommen wird. Und da sind die Menschen unterschiedlich veranlagt. Es gibt Männer und Frauen, die leben am liebsten mitten im Sturm, es sind so viele
Bälle in der Luft, dass immer jongliert werden muss – aber es gelingt und sie sind glücklich. Lange Zeit habe ich mich so gefühlt. Wenn ich solche
Menschen heute treffe – mit einigen binich befreundet – halte ich manchmal den Atem an und denke: Hoffentlich kommt sie auch zum
Durchatmen, hoffentlich findet er mal einen ruhigen Moment zum Nachdenken.
In der Mitte des Lebens werden mir solche Ruhepunkte wichtiger. Während andere darüber spekulieren, ob ich nun »Karriere machen« will und nach Posten
oder Positionen strebe, bin ich viel mehr bei mir selbst und suche die Zeiten des Alleinseins. Eine Freundin meinte, sie habe Angst vor diesen Zeiten,
weil sie dann mit sich selbst konfrontiert würde. Das stimmt ja auch. Und klar, das ist nicht immer
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