In der Mitte des Lebens
wird operiert, Metastasen sind zurzeit gar nicht das Thema. Sie erzählt dennoch Geschichten von einer Cousine, die Brustkrebs hatte, von einem alten Onkel, der Blasenkrebs hatte, von einer über 80-jährigen Nachbarin, die keine Chemo mehr machen wollte, weil die Metastasen schon überall waren. Gut, das sind wohl Assoziationsketten, die einfach auftauchen …
Hanna, Lea, Nico und Christian sind inzwischen relativ entspannt, fragen, ob ich schlafen konnte, und können darüber reden. Ich fahre in die Stadt,
treffe mich mit U. Sie sagt: »Unsere Betroffenheitsbekundungen willst du jetzt bestimmt nicht hören!« Recht hat sie, ich will sie nicht hören … Lauter
Leute voller Betroffenheit kann ich nicht um mich haben. Ich werde das schon packen, so gern ich OP und Chemo und all das vermeiden würde.
Nach dem Kaffee gehe ich shoppen. Beim Schneider muss ich einiges abholen und nebenbei kaufe ich mir allen Ernstes im August eine Winterjacke. Eine Winterjacke im August ist bescheuert! Aber sie ist wunderschön und wer weiß, wann ich wieder shoppen kann. Irgendwie lässt sich das doch wunderbar rechtfertigen. Zurück zu Hause befinden die Mädels den Einkauf für gut, ich schmiere mir ein Brot und gehe an den Schreibtisch. Mein neues Buch soll noch so weit wie möglich fertig werden.
Als Nächstes telefoniere ich mit meiner Pressesprecherin. »Sitzt du«, frage ich. »Nein, ich stehe.« – »Dann setz’ dich besser.« Ich sage ihr, was los ist, und sie atmet tief durch: »Gut, dass ich sitze!« Wir lachen. Und dann reden wir darüber und es ist okay. Sie ist getroffen, aber wir können damit umgehen. Und wenn die Presse fragt? Ich bin dafür, zu sagen, was los ist, sonst denken siewerweißwas. Suizidgefährdung überforderter berufstätiger Mütter – das würde Eva Hermanns Frauentheorien stützen. Aber warum soll ich denn lügen? Es ist ja kein Vergehen, Brustkrebs zu haben.
Schritt für Schritt. Anruf bei K. Sie lacht erst, scherzt und wird dann ganz ernst, als sie realisiert, worum es geht. Wenn sie schon mal still ist! Aber dann wird sie ganz pragmatisch. Die Klinik ist nur eine Haltestelle weg von ihrem Haus, da kann sie kommen und wenn ich sie brauche ist sie da. Aber ob ich das wirklich öffentlich sagen soll, was es ist … Und nach ihrer Erfahrung mit Bekannten geht es eher um drei als um zwei Monate. Wir werden sehen …
Noch ein Kapitel im Buch geschrieben. Ich möchte das noch fertig bringen. Verabredet war Abgabe am 1. September. Das Kapitel geht über Heilige. Ach, damit habe ich Probleme, ich bin bestimmt keine Heilige und finde gut, dass Luther gegen das Konzept rebelliert hat. Aber dass andere für uns Vorbild sein können, das verstehe ich. In letzter Zeit habe ich so viel über Paul Gerhardt gelesen und geschrieben. Kommendes Jahr feiern wir seinen 400. Geburtstag. Ihm ist es wahrhaftig gelungen, im Leiden seinen Glauben zu leben. So ein kleiner Krebsknoten ist gegen seine Erfahrung »Peanuts«.
Jetzt fehlt nur noch A. Ihr Mann, mein Freund, der Patenonkel unserer Tochter, ist vor zwei Jahren an Krebs gestorben. Ich habe beide begleitet und Thomas auch beerdigt. Gestern war sie nicht da. Vorhin sagte ihre Tochter, es sei Besuch im Anmarsch und ich habe gesagt, ich rufe später zurück. Sarah hat aber schon mit der älteren Tochter, mit der sie befreundet ist, gesprochen. Es wird Zeit, dass A. im Bilde ist … Wie erwartet ist sie am meisten schockiert. Sie ringt nach Luft und ist fix und fertig. Aber was soll ich machen, sagen muss ich es ihr. Wir beenden das Gespräch. Später ruft sie noch einmal an, hat sich etwas gefasst. Ja, wir können sogar zusammen darüber lachen, dass der erste Gedanke in meinem Kopf war »Houston, wir haben ein Problem« und nicht »der Herr ist mein Hirte.« Aber wie gut wir wissen, dass wir lachen können, weil wirdie Erfahrung von Psalm 23 eben haben … A. ist für mich da, wenn ich sie brauche. Das haben die anderen Freundinnen auch gesagt und das tut gut. Aber jetzt habe ich die Nase voll vom Telefonieren. Ich spreche noch einmal mit Sarah, die sich auch gefasst hat und jetzt rational nachdenkt, was das Beste ist. Wir verabreden, dass ich ihr Montagmittag sage, was die Ärztin im Krankenhaus meint, dann ist es bei ihr in Argentinien frühmorgens und sie kann überlegen, wie es für sie das Beste ist. Jetzt gehe ich einen alten Tatort gucken und mache eine Flasche Wein auf.
27. August. »Bewahre uns Gott, behüte uns Gott …«, dieses schöne ernste
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