In der Mitte des Lebens
Und auch: »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.« Passt ja irgendwie zusammen.
Wie sagt Jesus in der Bergpredigt? Es genügt, dass jeder Tag seine eigene Plage hat … (Mt 6, 34) Aber erst will ich das aufschreiben. Ich vergesse immer alles so schnell. Ist das zwanghaft, das zu Papier zu bringen, nein, ins Laptop zu hacken?
18 Uhr. Predigt fertig, Postmappe gelesen, Mails abgeholt. Meine Referentin hat inzwischen für Montag alles abgesagt, damit ich zur Ärztin kann. Was
ich heute Nachmittag erlebt habe, kommt mir im Moment so unwirklich vor. Als sei das ein Irrtum. Eigentlich ist doch alles völlig normal, wie immer. Soll
ich U. anrufen oder K. oder A. oder meine Mutter oder meine Schwestern? Doch warum andere beunruhigen, wenn nachher womöglich alles gar nicht so schlimm
ist? Aber die OP wird kommen, daran haben beide Ärzte keinen Zweifel gelassen. Also doch anrufen? Bald werden Hanna und Lea von der Ostsee
zurückkommen. Sie waren mit ihren beiden Freunden eine Woche dort. Soll ich es ihnen erzählen? Oder ist nicht besser, zu warten bis Montag, dann ist die
Lage viel konkreter … Und wenn alles klar ist, wen muss ich überhaupt informieren? Den Präsidenten des Landeskirchenamtes, das Kolleg, den Bischofsrat,
den Ratsvorsitzenden, den leitenden Bischof der VELKD? Du liebe Zeit, das ist ja dann eine Meldung, die voll die Runde macht! Da kann ich auch gleich eine
Anzeige aufgeben: Habe Brustkrebs, bin bis auf Weiteres außer Dienst!
Ich bin jetzt seit 1983 »erwerbstätig«, aber krankgeschrieben war ich noch nie, habe höchstens mal einen Tag wegen Erkältung oder so gefehlt. Hm. Im Krankenhaus war ich als Kind mit dem Blinddarm, dann zu den Geburten, als ich ein Kind verloren habe und als mir eine Krampfader entfernt werden musste. Sonst nie. Vor viereinhalb Jahren, als Hanna nur mit kräftiger Zuzahlungihre Woche bei der Mandelentfernung in ein Zweibettzimmer kam, habe ich eine Einbettzimmerversicherung abgeschlossen. Das hat mich jeden Monat viel Geld gekostet, manchmal habe ich überlegt, das rückgängig zu machen. Jetzt bin ich heilfroh. Wenn schon, dann will ich allein sein in einem Krankenhauszimmer. Luxus, ich weiß.
26. August. Heute Morgen um den Maschsee gelaufen, ganz locker, 40 Minuten. Fit bin ich jedenfalls, wenn die gestern diesen Knoten nicht diagnostiziert hätten, würde ich es kaum glauben.
Hanna und Lea habe ich es dann gestern in aller Ruhe gesagt. Sie haben besorgt und betroffen reagiert, konnten aber gut damit umgehen. Wir haben richtig intensiv miteinander sprechen können. Ob Christian dann noch die sechs Wochen während seines NP-Praktikums hier wohnen kann, hat Lea gefragt. Ich habe ihr gesagt klar, das ist völlig okay. Mich würde eher annerven, wenn jetzt alle mit Grabesmiene um mich herumschleichen. Nico meint, ich sei tough, ich würde das schon schaffen. So sehe ich das ehrlich gesagt auch. Abends rief Sarah noch mal an und hat auch lange mit Hanna und Lea gesprochen. Seit ich mit Peter geredet habe, weil sie nicht da war, als ich anrief, verstehe ich auch besser, dass sie unbedingt kommen will. Es geht ja auch um sie, die gerne in so einer Situation bei ihrer Familie wäre, sagt Peter. Ich habe zwar vehement gesagt, sie brauche nicht kommen, aber heute beim Laufen dachte ich, da wäre ich ja genauso, ich würde da sein wollen. Aber bei mir sickert erst langsam durch, was das alles in der Konsequenz bedeutet. Mir ist klar, dass wir alle sterben müssen, aber diese theoretische Weisheit ist halt nicht gleich praktische Klugheit …
Dann habe ich U. angerufen. Sie war richtig schockiert. Aber praktisch wie sie ist, hat sie gesagt: Treffen wir uns auf einen Kaffee um 12 Uhr in der Stadt! Gut, habe ich gedacht, dann bringst du das Telefonat mit deiner Mutter vorher noch hinter dich. Erst habe ich meine Schwester angewählt. Meine Mutter wohnt in derselben Kleinstadt, es ist besser, sie weiß es, dann kann unsere Mutter darüber reden. Ursula hat bedrückt, aber pragmatisch reagiert. Undsagt, dass sie jetzt auch alle sechs Monate zur Krebsvorsorge gehen wird. Meiner Mutter fiel es schwer, das Ganze zu verkraften. Sie war ganz still am Telefon. Immer hatte sie Angst, zu früh zu sterben, bevor ihre Kinder selbstständig sind. Auch bei einer 83-Jährigen gibt es also noch diesen Schock, dass die Kinder vor den Eltern sterben könnten. Aber, sage ich, es geht im Moment gar nicht um Sterben. Es geht um einen begrenzten Tumor, der
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