In der Mitte des Lebens
sind Sie draußen und dann kommen Chemotherapie und Strahlentherapie – Sie müssen mit zwei Monaten rechnen.«
In diesem Moment geht mir dieser Satz aus dem Kinofilm durch den Kopf: »Houston, wir haben ein Problem!« Ich denke an meinen Terminkalender für September, den wir gerade gestern erst durchgesprochen haben. Wie soll das bloß gehen? Bei Pilawa habe ich fest zugesagt. Und die Generalkonvente. Und der Kirchenkreisbesuch, der Vortrag. Und, und, und … Derweil sagt Frau Dr. W., sie werde versuchen, so schnell wie möglich einen Termin für mich zu bekommen, sie werde mich auf dem Handy anrufen.
Ich radle nach Hause. Vor der Haustür klingelt das Handy – meine Gynäkologin ruft an, sie hat um 10 Uhr am Montag einen Termin in der Klinik gemacht, um den Befund zu sichten, den OP-Termin abzusprechen und die Termine für Chemo- und Strahlentherapie. Ich denke kurz nach, weil in Berlin am Montag eine Aufnahme beim Deutschlandradio ist, ein Gespräch beim rbb, ein Treffen des Rates der EKD mit dem Präsidium der SPD und ein Gespräch mit Kurt Beck über Kriegsdienstverweigerer, weil ich die Präsidentin der KDV bin … Frau W. drängt: »Frau Käßmann, ich würde den Termin echt wahrnehmen!« Gut, denke ich, die Welt wird sich weiterdrehen, auch wenn ich Montag nicht in Berlin bin.
In der Kanzlei rufe ich meine Referentin und die noch anwesende Sekretärin zusammen. Nachdem ich ihnen die Lage erklärt habe, bereden wir, was als Nächstes dran ist. Beide bleiben ruhig, aber ich sehe, wie sie innerlich beben. S. meint: »Wir schaffen das schon.« Wir verabreden: Meine Referentin sagt erstmal nur alle Termine am Montag ab und dann sehen wir weiter. Und jetzt brauchen die beiden Zeit, ohne mich miteinander darüber zu reden.
Gut, denke ich, als Nächstes also an die Predigt für Sonntag. Ich mag das jetzt keinem erklären. Das Telefon klingelt, meine Tochter Sarah aus Argentinien. Strahlend berichtet sie, vielleicht könnten ihr Freund Peter und sie einen früheren Flug am 15. September bekommen. Sie haben ein Ticket, bei dem der Rückflugerst vor Ort geklärt werden kann, und warten schon lange auf einen Platz … Dann merkt sie, dass etwas los ist und fragt. Ich zögere: Soll ich ihr die Freude verderben, sie klingt so glücklich! Aber wenn ich nächste Woche schon ins Krankenhaus muss, erfährt sie es ohnehin. Also sage ich ganz vorsichtig, da sei ein kleiner Knoten und der müsse entfernt werden. Sie bohrt und fragt nach. So ist sie – und mit ihren 24 weiß sie, was das bedeutet. Brustkrebs also.
Am liebsten möchte sie sofort nach Hause kommen. Sie weint. Ich tröste sie und sage, dass alles halb so schlimm sei. Sie müssen die Brust nicht
entfernen, die Heilungsaussichten sind gut, ich möchte nicht, dass sie meinetwegen heimkommt. Im Krankenhaus kann sie doch nichts für mich tun, aber nach
der Chemo, wenn ich mich schlecht fühle, dann wäre ich sicher froh, wenn sie da wäre. Sie weint. Ich sage: »Schau mal, meine Kinder sind groß, das ist
viel schlimmer, wenn die Kinder klein sind.« Wir erinnern uns an eine Bekannte in Fulda, die nach der Chemo immer Schlafmittel nahm und schließlich alles
überstanden hat, selbst als die Haare ausfielen. »Wenn mir die Haare ausfallen, nehme ich keine Perücke«, sage ich. Am Ende verabreden wir, wenn alles
überstanden ist, dann fahren wir irgendwo hin. Auf die Malediven wollte ich schon immer. Hoffentlich, denke ich, lässt sich das alles überstehen und ist
nicht der Anfang vom Ende, das könnte ja auch sein. Dann müsste ich wesentlich mehr regeln! Aber das sage ich Sarah jetzt nicht, sie ist beunruhigt
genug. Ihr Freund wird sie in die Arme nehmen und trösten, gut, dass Peter da ist.
Jetzt sitze ich am Schreibtisch. Ich bin ganz ruhig. Aber ich ahne, die nächsten Wochen werden sehr anders als geplant. Wem sage ich wann was? Jetzt scheint es mir irgendwie zu früh. Wahrscheinlich warte ich bis Montag. Meine Mutter wird tief beunruhigt sein. Die anderen Töchter auch. Meine beste Freundin hat erst vor zwei Jahren ihren Mann durch Krebs verloren, sie wird sich furchtbar erschrecken. Bei U. sollte ich nächsten Samstag die Wohnung einweihen. Mit G. wollte ich im Oktober nachLanzarote fliegen … Also schreibe ich jetzt erst einmal die Predigt für Sonntag. Festgottesdienst, Groß- und Klein-Liedern feiern »1000 Jahre erste urkundliche Erwähnung«. Als Predigttext nehme ich Psalm 90, darin heißt es, 1000 Jahre seien vor Gott wie ein Tag.
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