In der Mitte des Lebens
Lied. 8 Uhr 15 Abfahrt nach Groß-Liedern. Festgottesdienst zur 1000-Jahr-Feier. Auf dem Weg ruft meine Mutter an. Wie es mir ginge, in der Morgenandacht im Radio habe sie so tröstliche Verse von Jesaja gehört, aber die kenne ich wahrscheinlich. Ja, ich kenne sie … Aber ich freue mich, wie gefasst sie jetzt ist, sie kann darüber reden. Heute Abend kommt meine mittlere Schwester zu ihr, ob ich wohl um halb acht anrufen kann, damit ich es ihr selbst erzähle. Na klar. So doll reden kann ich aber nicht, mein Fahrer ist zwar sehr diskret, aber diese Geschichte will ich ihm irgendwie doch nicht zumuten. Also bin ich eher etwas verschlüsselt …
Das Festzelt ist brechend voll. Ein schöner Gottesdienst, alles ist ganz liebevoll vorbereitet. Das erste Mal seit der Diagnose werde ich etwas emotional. Wir singen »Nun danket alle Gott« – den Vers mit dem »immer fröhlich’ Herz« mag ich am meisten, er bedeutet jetzt mehr als früher. »Ich sing dir mein Lied« – eine lateinamerikanische Melodie, ein so schöner Text. In der Predigt gehe ich auch auf unsere Zuversicht im Leiden ein. Wenn ich das predige, werde ich das jetzt schlicht auch leben müssen, denke ich. Und es ist ja auch so. Ich bin eher traurig darüber, dass alle, die mich lieben, das jetzt verkraften müssen. Ich selber, denke ich, werde schon damit fertig. Ich bin 48, habe alles, was sich Frauen nur wünschen können auf der Welt, Kinder, Beruf, eine schöne Wohnung. Andere Frauen in Afrika sterben mit Anfang zwanzig an Hunger und Elend und Mangel an medizinischer Versorgung.Mich bedrückt auch die Erkrankung gar nicht so, das trifft doch Zehntausende, warum nicht auch mich. Ein bisschen Angst habe ich nur mit Blick auf die Auswirkungen der Chemotherapie. Und jetzt habe ich auch das Gefühl, ich kann diesen Knoten geradezu spüren, wie er da sitzt, und hoffe, er streut nichts durch die Gegend.
Im Gebet nimmt der Probst auch die Bischöfin in die Fürbitte auf – wenn er wüsste, wie nötig ich das gerade heute habe. Aber ich kann mich ja auch nicht hinstellen und sagen: »Vielen Dank, ich habe nämlich Brustkrebs.« Das wäre bizarr, aber ich weiß auch, den Menschen hier täte es einfach nur leid, sie mögen »ihre Landesbischöfin«, jedenfalls die meisten. Wir singen »Bewahre uns Gott, behüte uns Gott, sei mit uns in allem Leiden« … Und ich bekomme einen wunderschönen Blumenstrauß. Anschließend besichtigen wir die Kapelle mit dem beeindruckenden Georgsaltar. Viele sagen, sie freuen sich schon auf meinen Kirchenkreisbesuch im September. Ich versuche, so zu reagieren, dass ich bei der Wahrheit bleibe, aber auch keine Beunruhigung auslöse. Ich muss einfach morgen erst einmal hören, wie der Zeitplan ist. Eine Frau sagt: »Woher nehmen Sie nur immer die Worte und auch die Kraft!« Ach, denke ich, ich hoffe, die Kraft bleibt mir erhalten! Und dann singen sie mir tatsächlich ein Ständchen zur Abfahrt.
Das Mittagessen ist nett. Danach habe ich mit Hanna und Lea eine Stunde zusammengesessen und von meinem Vater erzählt. Auf einmal war so eine
Atmosphäre da, das lässt sich ja nicht herstellen, die entsteht plötzlich. Merkwürdig, wie wenig ich ihnen erzählt habe bisher. Hanna fragt dann, ob ich
ihnen nicht ein paar Fotos zeigen kann, und über den Fotos haben wir so richtig nett geklönt. Danach habe ich eine Stunde wunderbar geschlafen. A. hat
angerufen. Sie sagt, ich sei »statistisch falsch«, habe eine Ärztin gesagt, mit der sie heute Morgen gesprochen hat – ist ja klar, allen geht das durch
den Sinn. Statistisch kriegen Frauen, bei denen keine Verwandte Brustkrebs hatte und die gestillt haben, eher nicht Brustkrebs. Und ich habe vier Kinder gestillt! Statistik, das sind eben auch nur Zahlen …
Wenn ich das alles jetzt aufschreibe, ist das vielleicht auch merkwürdig. Aber ich kenne mich ja, mir hilft es schon immer, zu schreiben. Seit 1968, dem Einmarsch der Sowjets in der Tschechoslowakei, schreibe ich Tagebuch. Mit Schreiben habe ich auch schon oft Konflikte bewältigt. Ich schreibe gern. Ja, Journalistin wäre auch eine gute Berufswahl gewesen. Aber als Bischöfin habe ich ja durchaus viele Möglichkeiten zum Schreiben. Also, jetzt gehe ich an das Ikonen-Kapitel in meinem Spiritualitätsbuch.
Habe um halb acht meine Schwester Gisela erreicht. Sie ist aus Stockholm von ihrem Sohn gekommen und jetzt eine Nacht bei unserer Mutter. Die hatte das Telefonat wohl angekündigt und Gisela war ganz aufgekratzt. Als sie den
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