In der Mitte des Lebens
Feld hinweist, an denen sich der Mensch ein Beispiel nehmen sollte, dann ja wohl, um die ewige Sorge des Menschen um den morgigen Tag infrage zu stellen. »Es genügt, dass jeder Tag seine eigene Plage hat«, sagt er. Und das gefällt mir! Wie viele Sorgen machen sich Menschen, um dies und um das, um Großes, aber wirklich auch um Kleinigkeiten. Glück wahrnehmen heißt auch, sich am Kleinen freuen können, jetzt diese Muschel mitnehmen, die kleinen Narzissen im Garten kräftig gelb gegen das eklige Märzwetter anleuchten sehen, dem Eichhörnchen zuschauen, das durch den Garten hüpft. Ja, ich weiß, Kleinigkeiten. Vielleicht dann Größeres: unter der Dusche wissen, dass nahezu alle Frauen in Afrika mich um diesen Luxus beneiden – was für ein Glück, unter solchen Verhältnissen zu leben! Glück, dass ein Kind gesund aufwachsen kann. Glücklichsein ist vielleicht schlicht eine Haltung der Dankbarkeit, die nicht alles Gute selbstverständlich nimmt, sondern als Gottes Geschenk ansieht. In der Mitte des Lebens wird uns das immer bewusster. Und manchmal heißt Glück auch, etwas Verrücktes wagen, einmal aus der Reihe zu tanzen. Wie singt Katie Melua: »This is the closest thing to crazy I have ever been, feeling 22, acting 17« – das ist das Verrückteste, was ich je getan habe, fühlen wie 22, handeln wie 17. Auch das gibt es ja in der Mitte des Lebens, einmal ausbrechen, sich jung fühlen.
Ich selbst habe Glück empfunden nach der Krebserkrankung. Dieses Gefühl: Ich bin noch am Leben! Die Dankbarkeit, bewahrt worden zu sein, die war
groß. Und ich habe durch die Krankheit eine Phase erlebt, in der ich zwei Monate Zeit nur für mich hatte, Zeit, zu mir selbst zurückzufinden. Ich konnte
diese Zeit als geschenkte Zeit wahrnehmen. Als Zeit der Klärung. Wer bin ich? Lasse ich mich treiben von den Meinungen und Ansprüchen anderer? Wie will
ich alt werden?
Heute habe ich die Balance wiedergefunden. Es hat ein paar Jahre gedauert, aber ich könnte heute wieder von mir sagen, dass ich glücklich bin. Auch das ist eine Erfahrung in der Mitte des Lebens: Du gehst durch tiefe Täler, aber du musst nicht unten bleiben, sondern du findest wieder einen Hügel, von dem aus du einen freien Blick über das Land hast.
52 Offenbarung 19,7.
Vergänglichkeit annehmen
Wenn wir älter werden, müssen wir uns mit dem Ende des Lebens auseinandersetzen. Es kommen häufiger auch wirkliche Abschiede für immer
– von unseren Eltern, von Freunden, die sterben. Vor zwei Jahren erhielt ich die Todesanzeige einer Schulkameradin, mit der ich Abitur gemacht hatte. Sie
starb wenige Tage nach ihrem 50. Geburtstag. Mich hat das sehr betroffen, ein so unvermuteter Abschied, ein Schock, der das Gefühl hinterlässt, manches
nicht gesagt zu haben, was hätte gesagt werden sollen. Sie wollte nicht, dass wir es wissen … Die eigenen Grenzen annehmen und Abschiede ins Leben
hineinnehmen, auch das gehört dazu bei der Suche nach der Balance in der Mitte des Lebens.
Grenzen akzeptieren
Ich breite meine Hände aus zu dir, meine Seele
dürstet nach dir wie ein dürres Land. 53
In der Mitte des Lebens, denke ich, gerät der Mensch ständig an Grenzen, wenn er sich nicht diese ganz grundsätzliche Frage stellt und
zu einer Antwort findet – die Frage nach dem Sinn. Es gibt da diese Werbung für einen Wagen der besseren Mittelklasse. Auf einer Doppelseite ist ein Mann
abgebildet, der am Abgrund steht und fragt: »Woher komme ich, wohin gehe ich?« Das ist die klassische, geradezu religiöse Frage. Und beim Umblättern
geht’s weiter,da ist er wieder und sagt: »Mein Auto weiß die Antwort.« Die Sinnfrage, sie wird hier wie oft mit einem Konsumartikel
beantwortet. Warum nicht gleich schreiben: »Meinen Sinn, den kauf ich mir …«
Sinn aber ist etwas anderes als ein Zweck, den ich mit Sachen erreichen kann. Beim Sinn geht es tatsächlich um die Frage nach Ursprung und Ziel. »Die
Sinnfrage transzendiert das positiv Gegebene und Bestehende. Der Sinn eines Lebens, der Sinn einer Biografie kann von außen dem Menschen nicht mitgeteilt
werden« 54 , so sagt es Martin Honecker. Als Christin finde ich Sinn in dem eigenen Geschaffensein. Der Schöpfer
meines Lebens, Gott, spricht meinem Leben Sinn zu, gleich wie verwundet oder zerstückelt es ist. Das ist eine ungeheure Bestärkung in diesem Leben, für
mein Leben! Und durch den Glauben finde ich diesen Sinn, den Gott mir zuspricht, und der macht mein Leben ganz und gut.
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