In der Nacht (German Edition)
ihre Schwester Benita zu Besuch – und blieben. Tomas, der bei ihrer Ankunft gerade krabbeln gelernt hatte, machte seine ersten Schritte, als er fast elf Monate alt war. Die Frauen verwöhnten ihn nach Strich und Faden, stopften ihn derart voll, dass er sich allmählich in eine Kugel mit feisten, faltigen Beinchen verwandelte. Doch als er schließlich laufen konnte, begann er bald auch zu rennen. Er rannte durch die Felder, die Hänge hinauf und hinab, während die Frauen ihn einzufangen versuchten, und kurz darauf flitzte keine Kugel mehr über die Plantage, sondern ein schlanker Junge mit dem hellen Haar seines Vaters, den dunklen Augen seiner Mutter und einer Haut, deren Farbe an Kakaobutter erinnerte.
Ein paarmal flog Joe mit der Blechgans nach Tampa, einer Ford Trimotor 5- AT , die im Wind knarzend hin- und herschaukelte und zwischendurch ohne Vorwarnung abzusacken pflegte. Mehrmals waren seine Ohren so verstopft, dass er für den Rest des Tages nichts mehr hören konnte. Die Stewardessen versorgten ihn mit Kaugummi und Baumwollstöpseln für die Ohren, doch komfortabel konnte man diese Art des Reisens wahrlich nicht nennen, weshalb Graciela ihn nie begleitete. Und wenn er dann ohne sie unterwegs war, fehlten ihm Tomas und sie so sehr, dass es ihm buchstäblich physische Schmerzen bereitete. Zuweilen erwachte er dann mitten in der Nacht in ihrem Haus in Ybor, weil ihn so starke Magenschmerzen quälten, dass er kaum noch atmen konnte.
Sobald er seine Geschäfte unter Dach und Fach gebracht hatte, nahm er das nächste Flugzeug nach Miami und stieg dort direkt in die nächste Maschine nach Kuba um.
Dabei war es keineswegs so, dass Graciela nicht nach Tampa zurückkehren wollte. Nur nicht gerade jetzt. Und nicht auf dem Luftweg (woraus Joe schloss, dass sie womöglich doch mit Tampa fertig war). Und so blieben sie weiter in Las Terrazas, und schließlich gesellte sich auch noch Gracielas zweite Schwester Ines zu ihnen. Was immer es auch an bösem Blut zwischen Graciela, ihrer Mutter und ihren Schwestern gegeben haben mochte, war vergessen und vergeben. Die Zeit hatte alle Wunden geheilt, und Tomas tat sein Übriges. Ein-, zweimal, als Joe nachschaute, warum die Frauen so ausgelassen lachten, ertappte er sie zu seinem Entsetzen dabei, wie sie den Kleinen gerade in Mädchenkleider steckten.
Eines Morgens fragte ihn Graciela, was er davon halten würde, wenn sie sich ein Haus in der Gegend kauften.
»Hier?«
»Nicht unbedingt«, antwortete sie. »Aber auf Kuba. Nur als Zweitwohnsitz.«
Joe lächelte. »Für die eine oder andere Stippvisite?«
»Ja«, erwiderte sie. »Es wird Zeit, dass ich mich wieder in die Arbeit stürze.«
Was mehr oder weniger ein Lippenbekenntnis zu sein schien. Während seiner Abstecher nach Tampa hatte Joe sich ein wenig genauer über die Mitarbeiter informiert, die sich um Gracielas gemeinnützige Projekte kümmerten, und festgestellt, dass es sich dabei durchweg um ausgesprochen zuverlässige Männer und Frauen handelte. Selbst wenn Graciela sich ein ganzes Jahrzehnt lang nicht in Tampa blicken ließ, würden die von ihr ins Leben gerufenen karitativen Einrichtungen nach wie vor blühen und gedeihen.
»Kein Problem, Schatz. Dein Wunsch ist mir Befehl.«
»Es muss auch kein besonders großes oder schickes Haus sein.«
»Graciela«, sagte Joe. »Such dir eins aus. Und wenn dir etwas ins Auge sticht, das nicht zum Verkauf steht, bietest du einfach das Doppelte.«
Kuba, das die Depression schlimmer erwischt hatte als die meisten anderen Länder, begann, sich langsam wieder zu erholen. Die Umtriebe des Machado-Regimes waren vorbei; aller Hoffnungen richteten sich nun auf Oberst Fulgencio Batista, der den Aufstand der Unteroffiziere initiiert und Machado zum Teufel gejagt hatte. Offizieller Präsident der Republik war nun Carlos Mendieta, doch alle wussten, dass Batista und die Armee das Sagen hatten. Die Amerikaner waren von der neuen Führung so angetan, dass sie Geld ins Land pumpten, kaum dass Machado nach Miami geflohen war – Geld für Krankenhäuser, Straßen, Museen, Schulen und ein neues Geschäftsviertel am Malecón. Oberst Batista schätzte nicht nur die amerikanische Regierung über alle Maßen, sondern auch die amerikanischen Glücksspieler, weshalb Joe, Dion, Meyer Lansky und Esteban Suarez Zutritt zu höchsten Regierungskreisen hatten. Sie konnten bereits eine ganze Reihe von Pachtverträgen für erstklassig gelegene Grundstücke rund um den Parque Central und den
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