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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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stets am wenigsten dazuzupassen, Joan, Baedeckers Ex-Frau, hatte vor fast zwanzig Jahren, als sich die beiden Paare im Frühjahr 1956 auf dem Luftwaffenstützpunkt Edwards zum ersten Mal kennengelernt hatten, die Prophezeiung ausgesprochen, daß die Gavins bald wieder geschieden sein würden.
    »Tommy?« fragte Gavin.
    Tom Gavin Jr. sah weg und nickte verkrampft. Er trug ausgefranste Jeansshorts und ein blaues T-Shirt mit der Aufschrift ›Campus Crusade for Christ‹. Der Junge war schon über einen Meter achtzig groß und wuchs noch. Im Augenblick schien er einen fast greifbaren Zorn mit sich herumzuschleppen, der an ihm hing wie ein zweiter Rucksack. »Dick?«
    »Jo«, sagte Baedecker. In seinem orangefarbenen Rucksack trug er ein Zelt mit Regenüberzug, Wasser, Extrakleidung, Erste-Hilfe-Kasten, Seil, Taschenlampe, Autan, einen Fiberfill-Schlafsack mit Bodendecke, Schaumstoffkissen und andere Campingsachen. Er hatte alles heute morgen auf Gavins Waage im Bad gewogen und brachte es auf achtundzwanzig Pfund, aber Baedecker war überzeugt, daß seither jemand heimlich ein paar Bowlingkugeln und eine umfangreiche Steinsammlung hinzu gefügt hatte. Der eingeklemmte Nerv in seinem Nacken fühlte sich wie eine zu straff gespannte Gitarrensaite an. Baedecker fragte sich, was für einen Laut der Nerv hervorbringen würde, wenn er riß. »Bereit«, sagte er. »Miss Brown?«
    Maggie zog ein letztes Mal an den Schultergurten des Rucksacks und lächelte. Für Baedecker war es, als wäre die Sonne gerade hinter einer Wolke hervorgekommen, obwohl der Himmel über Colorado den ganzen Tag wolkenlos gewesen war. »Alles fertig«, sagte sie. »Nennen Sie mich Maggie, Tom.« Sie hatte das Haar geschnitten, seit Baedecker sie vor drei Monaten in Indien gesehen hatte. Sie trug Baumwollshorts und ein weiches kariertes Hemd offen über einem grünen Oberteil. Ihre Beine waren braun und muskulös. Maggie trug die leichteste Last, nicht einmal einen Rucksack mit Gestänge, sondern nur einen einfachen blauen Leinensack, an dem ihr zusammengerollter Daunenschlafsack festgebunden war. Alle anderen trugen schwere Bergsteigerstiefel, Maggie dagegen nur kurze Nikes. Baedecker rechnete halb damit, daß sie wie ein losgelassener Luftballon davonschweben würde, während alle anderen dahinstapften wie Tiefseetaucher.
    »Okay«, sagte Gavin, »brechen wir auf, ja?« Er drehte sich um und führte sie schnellen Schrittes von dem geparkten Auto weg.
    Jenseits der Wiese wurde die Straße zu nichts weiter als einem schmalen Weg, der sich zwischen Hainen von Goldkiefem wand. Deedee sputete sich, um mit ihrem Mann Schritt zu halten. Maggie verfiel wenige Schritte dahinter in eine angenehme Gangart. Baedecker strengte sich mächtig an, damit er den Anschluß nicht verlor, aber nach den ersten dreihundert Metern bergauf war er rot im Gesicht und stolperte, während seine Lunge sich bemühte, mehr Sauerstoff zu bekommen als in der dünnen Luft in dreitausend Meter Höhe zur Verfügung stand. Nur Tom Jr. blieb noch weiter zurück, warf ab und zu einen Stein gegen einen Baum oder schnitzte mit seinem Messer etwas in eine Espe.
    »Kommt schon, legen wir einen Zahn zu«, rief Gavin von der nächsten Biegung. »Wir sind noch nicht einmal auf dem Pfad.«
    Baedecker nickte, zu ausgepumpt zum Sprechen. Maggie machte kehrt und kam bergab auf ihn zugelaufen.
    Baedecker wischte sich das Gesicht ab, verschob den Rucksack auf dem schweißgetränkten Hemdrücken und dachte, was für ein Wahnsinn es doch sei, daß jemand bergab lief, wenn er gleich darauf wieder bergauf müßte.
    »Hi«, sagte sie.
    »Hi«, stieß Baedecker hervor.
    »Es kann nicht mehr lange dauern, bis wir unser Lager aufschlagen«, sagte sie. »In fünfundvierzig Minuten oder so wird die Sonne hinter dem Kamm untergehen. Außerdem sollten wir uns heute abend im unteren Teil des Canyon halten, noch zwei Meilen, dann wird das Gelände ziemlich steil.«
    »Woher wissen Sie das?«
    Maggie lächelte und schob eine Haarsträhne hinter das Ohr. Es war eine Geste, die Baedecker von Indien noch in bester Erinnerung hatte. Er stellte erfreut fest, daß der kürzere Haarschnitt diese Bewegung nicht überflüssig gemacht hatte. »Ich habe mir die Karte angesehen, die Tom Ihnen gestern abend in Boulder gezeigt hat«, sagte sie.
    »Oh«, sagte Baedecker. Maggies plötzliches Auftauchen im Haus der Gavins hatte Baedecker so durcheinandergebracht, daß er der Karte keine große Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er zog

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