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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Nacken.
    »Sie alle haben gesehen, wie das Shuttle explodierte«, sagte Baedecker mit leiser Stimme. »Immer und immer wieder auf Video. Es war wie ein immer wiederkehrender Traum, oder nicht? Ein Alptraum, den wir nicht abschütteln konnten.« Baedecker hörte diese Worte mit Erstaunen. Er hatte keine Ahnung, was er als nächstes sagen sollte.
    »Ich war bei der NASA dabei, als das STS das Shuttle System entworfen wurde«, sagte er. »Jeder Schritt auf dem Weg war ein Kompromiß, wegen Geld ... oder Politik oder Bürokratie ... oder Dummheit der Firmen. Wir haben diese sieben Menschen so sicher getötet, als hätten wir ihnen selbst die Waffe an den Kopf gehalten.«
    Die Gesichter, die sich Baedecker zu wandten, waren durchsichtig wie Wasser, unstet wie Kerzenflammen.
    »Aber so wirkt die Evolution!« schrie Baedecker, der den Mund zu dicht am Mikrofon hatte. »Die Aggregate... der Orbiter und der externe Tank und die SRBs und alles, sehen so wunderschön aus, so fortschrittlich, so technologisch perfekt ... aber sie sind, wie wir, ein evolutionärer Kompromiß. Unmittelbar neben dem Wunder des Herzens oder dem Mirakel des Auges gibt es eine übriggebliebene Dummheit wie den Blinddarm, die nur darauf wartet, uns zu töten.«
    Baedecker schwankte leicht und betrachtete sein Publikum. Er konnte ihnen das Wesentliche nicht vermitteln, und plötzlich war es sehr wichtig, das zu tun.
    Das Schweigen zog sich in die Länge. Die Geräusche des Old Settlers-Jahrmarkts verstummten. Jemand im hinteren Teil der Turnhalle hustete, und das Geräusch hallte wie ein Kanonenschuß. Baedecker konnte sich nicht mehr auf Gesichter konzentrieren. Er kniff die Augen fest zusammen und klammerte sich am Podium fest.
    »Was ist mit den Fischen passiert?«
    Er schlug die Augen auf und sprach mit drängend erhobener Stimme weiter. »Den Lungenfischen. Den ersten Kreaturen, die aus dem Meer krochen. Was ist mit ihnen passiert?«
    Das Schweigen der Zuschauer nahm eine andere Tonlage an. Spannung herrschte im Raum. Irgendwo draußen schrie ein Mädchen auf einem der Karussells in gespieltem Entsetzen. Der Schrei verhallte, das Publikum im Inneren wartete.
    »Sie hinterließen Abdrücke im Schlamm, und was dann?« fragte Baedecker. Seine Stimme klang selbst in seinen Ohren seltsam. Er versuchte sich zu räuspern, dann sprach er weiter. »Die ersten. Ich weiß, sie lagen wahrscheinlich einfach nur eine Zeitlang nach Luft schnappend am Ufer und kehrten dann in den Ozean zurück. Als sie starben, sanken ihre Knochen zu denen aller anderen im Urschlamm. Da weiß ich, das habe ich nicht gemeint.« Baedecker drehte sich halb zu Ackroyd und den anderen um, als bäte er um Hilfe, dann sah er wieder zu der Menge. Er senkte den Kopf einen Moment, hob ihn aber hastig wieder und sah ihnen in die Gesichter. Er erkannte niemanden. Seine Augen fanden nicht den richtigen Brennpunkt. Er hatte Angst, sein eigenes Gesicht könnte tränenfeucht sein, konnte aber nichts dagegen machen.
    »Haben sie geträumt?« fragte Baedecker. Er wartete, bekam aber keine Antwort.
    »Sie müssen wissen, daß sie die Sterne gesehen hatten«, sagte Baedecker. »Obwohl sie am Ufer lagen und nach Luft schnappten und nur ins Meer zurückkehren wollten, hatten sie die Sterne gesehen.«
    Baedecker räusperte sich wieder. »Ich will wissen ... bevor sie starben ... bevor ihre Gebeine zu den anderen sanken... haben sie geträumt? Ich meine, selbstverständlich haben sie geträumt, aber waren sie anders? Diese Träume. Ich versuche damit zu sagen ...« Er verstummte.
    »Ich glaube ...«, begann Baedecker und verstummte wieder. Seine Hand stieß gegen das Mikrofon, als er sich rasch ab wandte. »Danke, daß ich heute bei Ihnen sein durfte«, sagte Baedecker, aber sein Kopf war abgewandt, das Mikrofon stand schief, und niemand hörte ihn.
     
    Kurz vor drei Uhr übergab sich Baedecker leise und gründlich. Er war dankbar für das Bad neben dem Gästezimmer. Hinterher putzte er sich die Zähne, spülte den Mund aus und ging durch den Keller zu Terrys verlassenem Zimmer.
    Die Ackroyds hatten sich schon vor Stunden hingelegt. Es herrschte Stille im Haus. Baedecker machte die Tür zu, damit kein Licht hereinfallen konnte, und wartete, bis die Sterne herauskamen.
    Sie kamen. Einer nach dem anderen tauchte aus der Dunkelheit auf. Es waren mindestens mehrere Hundert. Die sonnenbeschienene Hemisphäre der Erde, drei Durchmesser über den lunaren Gipfeln, war ebenfalls mit phosphoreszierender Farbe

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