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In der Schwebe

In der Schwebe

Titel: In der Schwebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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die Schultergurte zurecht und ging weiter bergauf. Sofort fing sein Herz an zu schlagen, und seine gequälte Lunge bekam nicht genügend Sauerstoff.
    »Was stimmt nicht mit ihm?« fragte Maggie.
    »Mit wem?« Baedecker konzentrierte sich darauf, die Füße zu heben. Er konnte sich nicht erinnern, daß er Bleisohlen verlangt hatte, als er die neuen Wanderstiefel letzte Woche kaufte, aber offenbar mußte er es getan haben.
    »Ihm«, sagte Maggie und nickte mit dem Kopf bergab zu der mürrischen Gestalt von Tom Jr. Der Junge sah in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und hatte die Hände tief in die Taschen gesteckt.
    »Probleme mit seiner Freundin«, sagte Baedecker.
    »Zu dumm«, sagte Maggie. »Hat sie ihm den Laufpaß gegeben, oder was?«
    Baedecker blieb wieder stehen und schnappte nach Luft. Es schien nichts zu nützen. Winzige Trommler spielten Soli in seinen Ohren. »Nein«, sagte er, »Tom und Deedee kamen zum Ergebnis, daß es zu ernst wurde. Sie haben es unterbunden. Tommy darf sie nicht Wiedersehen, wenn sie zurückkommen.«
    »Zu ernst?« fragte Maggie.
    »Die Möglichkeit von vorehelichem Sex hat ihr häßliches Haupt erhoben«, sagte Baedecker.
    Maggie sah wieder zu Tom Jr. »Großer Gott«, sagte sie.
    »Er muß doch fast siebzehn sein.«
    »Eher achtzehn«, sagte Baedecker, setzte sich wieder in Bewegung und wartete, daß sein zweiter Energieschub kam. Dieser war überfällig. »Fast Ihr Alter, Maggie.«
    Sie verzog das Gesicht. »Nn-nnn, daneben«, sagte sie.
    »Ich bin sechsundzwanzig, und das wissen Sie auch, Richard.«
    Baedecker nickte und bemühte sich, schneller zu gehen, damit Maggie nicht dauernd halbe Zwischenschritte machen mußte, um ihm nicht davonzulaufen.
    »He, sagte sie, »wo ist Ihr Hüftgurt? Der ist nützlich bei diesen Gestängerucksäcken, wie Sie einen tragen. Entlastet die Schultern.«
    »Kaputt«, sagte Baedecker. Er schaute zwischen den Bäumen hinauf und erblickte Tom und Deedee zwei Kehren weiter, wo sie rasch ausschritten.
    »Sind Sie immer noch wütend?« fragte Maggie. Ihre Stimme veränderte sich etwas, wurde einen Tonfall tiefer. Als er sie hörte, schlug Baedeckers belastetes Herz noch schneller.
    »Wütend weswegen?« fragte er.
    »Sie wissen schon, weil ich aufgekreuzt bin, obwohl ich nicht eingeladen war«, sagte sie. »Weil ich geblieben bin und Sie zu diesem Wochenendausflug mit Ihren Freunden begleite.«
    »Selbstverständlich nicht«, sagte Baedecker. »Jeder Freund von Scott wäre willkommen.«
    »Hmm«, sagte Maggie. »Das hatten wir schon. Ich bin nicht von Boston hierher geflogen, nur weil ich die Freundin Ihres Sohnes bin. Ich meine, die Vorlesungen haben schon wieder angefangen.«
    Baedecker nickte. Scott hätte dieses Jahr seinen Abschluß machen können, wäre er nicht ausgestiegen, um zu diesem indischen Guru zu gehen. Baedecker wußte, daß Maggie vier Jahre älter war als Scott; sie hatte nach ihrem Abschluß am Wellesley zwei Jahre beim Friedenskorps verbracht und schrieb gerade an ihrer Magisterarbeit in Soziologie.
    Sie kamen auf eine Lichtung an einer breiten Haarnadelkurve, wo Baedecker stehenblieb und so tat, als bewundere er die Aussicht auf das Tal und die umliegenden Gipfel.
    »Mir hat Ihr Gesichtsausdruck gefallen, als ich gestern abend aufgetaucht bin«, sagte Maggie. »Ich dachte, die Zähne würden Ihnen aus dem Mund fallen.«
    »Meine Zähne sind meine eigenen«, sagte Baedecker. Er zog den Rucksack zurecht und zurrte einen Gurt fest.
    »Jedenfalls die meisten.«
    Maggie warf den Kopf zurück und lachte. Sie strich ihm mit kühlen Fingern über den sonnenverbrannten Arm, dann hüpfte sie die Straße entlang, verweilte kurz, um ihm zu winken, und dann rannte sie. Rannte. Bergauf. Baedecker machte einen Moment die Augen zu.
    »Kommen Sie, Richard«, rief sie. »Beeilen wir uns, damit wir das Lager aufschlagen und Abendessen machen können.«
    Baedecker öffnete die Augen. Die Sonne stand direkt hinter Maggie, umgab sie mit einem Strahlenkranz und beleuchtete sogar die feinen goldenen Härchen auf ihren Unterarmen. »Nur zu«, rief er. »Ich komme in etwa einer Woche nach.«
    Sie lachte und lief bergauf, offenbar unbeeinträchtigt von der Schwerkraft, die an Baedecker zerrte. Er sah ihr eine Weile nach, dann folgte er ihr, wobei er nun selbst leichtfüßiger voranschritt und die Last auf dem Rücken nicht mehr ganz so sehr spürte, während er höher stieg, der Kuppel des dünnen, blauen Himmels über Colorado entgegen.
     
    Baedecker

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