In der Südsee
erschlagen war und die Leute die Überreste eines armen Kameraden verspeisten, der mit ihnen in der Jugend gespielt, oder einer Frau, deren Gunst sie einst genossen – wurden alle diese Empfindungen mit Füßen getreten. Überlegt man sich alles das eingehender, so versteht, ja verzeiht man die eifernde Gerechtigkeit alter Schiffskapitäne, die ihre Kanonen laden und Feuer eröffnen ließen auf eine Kannibaleninsel, die sie passierten.
Und doch war es sonderbar. Dort, am Hochsitz selbst, als ich unter dem hohen, tropfenden Gewölbe des Urwaldes stand, den jungen Priester in seiner Kutte aufder einen, den helläugigen, marquesanischen Schulknaben auf der anderen Seite, schienen alle diese Dinge unendlich fernzuliegen, in der kühlen Perspektive und dem kalten Licht der Geschichte. Vielleicht beeinflußte mich das Benehmen des Priesters. Er lächelte, er scherzte mit dem Knaben, dem Nachkommen sowohl der Festteilnehmer wie der Opfer, er klatschte in die Hände und sang mir eine Strophe der alten grausigen Chorgesänge vor. Jahrhunderte mochten vergangen sein, seit das furchtbare Spiel auf diesem Theater zum letzten Male aufgeführt worden war, und ich betrachtete den Platz ohne größere Erregung, als ich sie bei einem Besuch von Stonehenge empfunden hätte. Als ich in Hiva-oa wahrnahm, daß die Sitte verborgen dicht neben mir noch lebte, so daß ich des Aufschreis eines in die Falle gegangenen Opfers möglicherweise gewärtig sein mußte, versagte die historische Betrachtungsweise vollständig, und ich verspürte einige Abneigung gegen die Eingeborenen. Aber auch hier bewahrten die Priester ihre Heiterkeit, sie neckten die Kannibalen, als ob es sich um absonderliche, nicht aber um entsetzliche Dinge handele, und suchten sie durch gutmütigen Witz und Erweckung des Schamgefühls von der Sitte abzubringen, wie man ein Kind beschämt, um es vom Zuckernaschen zu entwöhnen. Wir können hier den milden und klugen Geist des Bischofs Dordillon wiedererkennen.
Zwölftes Kapitel
Die Geschichte einer Pflanzung
Taahauku an der Südwestküste der Insel Hiva-oa – Tahuku sagen die Weißen nachlässig – kann man den Hafen von Atuona nennen. Es ist ein schmaler und kleiner Ankerplatz, eingebettet zwischen niedrigen, spitzen Klippen; oberhalb öffnet sich ein waldiges Tal. Ein kleines französisches Fort, jetzt geschleift und verlassen, hängt über dem Tal und der Hafeneinfahrt. Atuona selbst, am Innenbogen der nächsten Bucht, ist von Bergen umgeben, die auch die nahe gelegenen Teile von Taahauku beherrschen und der Landschaft charakteristische Züge verleihen. Man schätzt sie auf nicht mehr als viertausend Fuß, aber Tahiti mit achttausend und Hawaii mit fünftausend bieten kein so zerrissenes Bild melancholischer Alpenszenerie. Wenn am Morgen die Sonne direkt die Vorderfront trifft, stehen sie da wie ein ungeheurer Wall, grün bis zum Gipfel, wenn der Gipfel überhaupt klar ist: Wasserläufe durchfurchen ihr Antlitz, schmal wie Risse. Gegen Nachmittag fällt das Licht schräger ein, und die Gliederung des Gebirgszuges tritt deutlicher hervor, ungeheure Schluchten versinken in Schatten, riesige zerklüftete Vorsprünge stehen von Sonne beglänzt. Sie bieten dem Auge zu jeder Tagesstunde neue Schönheiten dar und lasten auf dem Gemüt mit ihrer immer gleichen, drohenden Düsternis.
Die Berge spalten den unaufhörlichen Windstrom des Passats, leiten ihn ab und sind ohne Zweifel verantwortlich für das Klima. Starke Böen strichen Tag und Nacht über den Ankerplatz. Tag und Nacht jagtenunentwegt phantastische, zerrissene Wolken am Himmel, eine düstere Regen- und Nebelkappe hob und senkte sich über die Berge. Die Landwinde strömten sehr heftig und kalt herein, und See und Luft waren in ständigem Aufruhr. Die Dünung drängte sich in den engen Hafen wie eine Schafherde in die Hürde, brach sich überall an beiden Ufern, bald hochgetürmt, bald flach, ließ an einer Stelle eine Felsspalte wie eine Kanone donnern und rauchen und verlief sich schließlich auf dem Strande.
Auf der Seite, die am weitesten von Atuona entfernt liegt, war unter dem Schutz des Vorgebirges eine Art Baumschule für Kokospalmen entstanden. Manche waren noch Knirpse, keine hatte bereits eine beträchtliche Größe erreicht, keine war schon himmelwärts emporgeschossen mit dem peitschenähnlichen Schaft der ausgereiften Palme. Die jungen Baume wechseln die Farbe mit dem Alter und Wachstum. Jetzt ist noch alles von grasartiger Zartheit, unendlich
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