In der Südsee
Nimmt man die Beweise für Übervölkerung und drohende Hungersnöte hinzu, die wir bereits angeführt haben, so hat man meines Erachtens einigen Grund, mit den Inselkannibalen Nachsicht zu üben.
Man muß jedes Problem von zwei Seiten betrachten, aber es liegt mir fern, dies mehr als bestialische Laster entschuldigen zu wollen. Die höherstehenden polynesischen Rassen, wie die Tahitier, Hawaiier und Samoaner, waren über diese Sitte alle hinausgewachsen, und manche hatten sie teilweise schon vergessen, als Cook und Bougainville mit ihren Segelschiffen am Horizont auftauchten. Sie hielt sich nur auf einigen niedrigen Inseln, wo der Lebensunterhalt schwierig zu gewinnen ist, und unter unverbesserlichen Wilden wieden Neuseeländern und Marquesanern. Die Marquesaner verknüpften die Menschenfresserei mit dem ganzen Gewebe ihres Daseins, »Langschwein« war gewissermaßen Zahlungsmittel und Sakrament, es war der Lohn des Künstlers, betonte die historischen Erinnerungstage und war Anlaß und Höhepunkt jedes Festes. Heute müssen sie diese blutrünstige Verquickung büßen. Die Zivilverwaltung mußte in ihrem Kreuzzug gegen den Kannibalismus alle marquesanischen Künste und Belustigungen unterdrücken, fand sie ohne Ausnahme mit kannibalischen Elementen durchsetzt und brachte sie nacheinander auf die Liste der Verbote. Ihre Kunst im Tätowieren war einzigartig, die Ausführung wundervoll, die Zeichnungen herrlich und überwältigend, kein schönerer Schmuck für schöne Menschen! Anfangs mag es etwas Schmerz bereiten, aber ich bezweifle, ob es auf die Dauer so qualvoll ist wie die unedle europäische Damensitte des Schnürens, und sicher ist es viel gesünder. Und nun wurde es für notwendig befunden, diese Kunst zu untersagen. Ihre Gesänge und Tänze waren zahlreich, und das Gesetz mußte sie dutzendweise abschaffen. Sie stehen heute mit leeren Händen der Öde ereignisloser Tage gegenüber, und wer soll sie bemitleiden? Der Sanftmütigste muß gestehen, daß ihnen recht geschehen ist.
Der Tod allein konnte marquesanische Rache nicht befriedigen, das Fleisch des Opfers mußte gegessen werden. Der Häuptling, der Mr. Whalon gefangennahm, hatte den sehnlichsten Wunsch, ihn zu verspeisen, und glaubte sich gerechtfertigt, als er erklärte, es handle sich um einen Racheakt. Vor zwei oder drei Jahren ergriffen und töteten Talbewohner einen armenWicht, der sie beleidigt hatte. Vermutlich war die Beleidigung schwer, sie konnten ihre Rache nicht unvollkommen lassen, und unter den Augen der Franzosen wagten sie nicht, ein öffentliches Gastmahl abzuhalten. Der Leichnam wurde also verteilt, jeder zog sich in sein Haus zurück, um den Ritus im geheimen zu vollziehen, und trug seinen Anteil an dem entsetzlichen Gericht in einer schwedischen Zündholzschachtel heim. Der Barbarismus des Dramas und die europäischen Gebrauchsgegenstände bieten der Phantasie Bilder ungeheuren Kontrastes. Aber noch bezeichnender ist ein anderer Vorfall aus dem Jahre 1888, als ich mich selbst dort befand. Im Frühling trieben sich ein Mann und eine Frau in der Nähe der Schule von Hiva-oa umher, bis sie ein bestimmtes Kind allein antrafen. »Bist du der und der, der Sohn von Soundso?« fragten sie und lockten es unter Liebkosungen tiefer hinein in die Wälder. Irgendein Instinkt erwachte in der Brust des Kindes, oder irgendein Blick verriet ihm das entsetzliche Vorhaben der Betrüger. Es versuchte ihnen zu entfliehen und schrie, aber sie ließen die Maske fallen, packten es fester und fingen an zu laufen. Seine Schreie wurden gehört, Schulkameraden, die in der Nähe spielten, eilten zu seiner Rettung herbei, aber das grausame Paar floh und verschwand in den Wäldern. Es wurde nie ermittelt, kein Strafgericht folgte, aber man nahm allgemein an, daß sie Groll hegten gegen den Vater des Knaben, den sie aus Rache zu verspeisen beschlossen. Überall auf den Inseln kann man, wie bei unseren Vorfahren, beobachten, daß der Rächer es nicht auf eine bestimmte Person absieht. Familie, Klasse, Dorf, ein ganzes Tal oder eine Insel, ein ganzer Stamm habenteil an der Schuld eines ihrer Angehörigen. So mußte in unserer Erzählung der Sohn an Stelle des Vaters büßen, und Mr. Whalon, der Steuermann eines amerikanischen Walfischfängers, sollte für die Freveltaten eines peruanischen Sklavenhändlers bluten und verspeist werden. Ich erinnere mich eines Vorfalls in Jaluit auf der Marschallgruppe, den mir ein Augenzeuge berichtete, und den ich hier wiedergebe
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