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In der Zone

In der Zone

Titel: In der Zone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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ihrem Mann stand.
    »Das Haus der Ilenjuks?« wiederholte Mascha begriffsstutzig, doch sie spürte, dass sich etwas in ihr öffnete: Der Gedanke an das, was hier geschah und was es verhieß, tauchte in ihrem Kopf auf wie ein kleiner Vogel, der von einem Baum geflogen kam, um sich im Gras niederzulassen.
    »Sind Sie nicht Mascha Sischylajewa?« fragte der Mann – aber er war ja kaum ein Mann, eher ein zu großer Junge. »Ich bin Sawa, Sawa Ilenjuk – erkennen Sie mich nicht?«
    Im nächsten Augenblick hatte Leonid die Flinte beiseite gestellt, war im Garten und umarmte diesen Jungen, diesen Sohn verstorbener Eltern, diesen Sohn der Erde, diesen Sohn des Dorfes, der heimgekehrt war. »Ja«, donnerte Leonid und trat einen Schritt zurück, um die hübsche junge Frau und die beiden Kinder zu betrachten, die mit dem Hund spielten, »ja, wir kennen dich, natürlich kennen wir dich. Willkommen, willkommen!«
    Und Mascha kam zur Besinnung und streckte erfreut die Hände aus. »Ihr müsst müde sein«, sagte sie. »Kommt, kommt herein. Ich habe Suppe auf dem Herd, Tee, Brot und Marmelade für die Kinder.« Sie hielt inne und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Kühe. »Allerdings leider keinen Käse.«
    Der Mann und die Frau wechselten einen Blick und wandten sich wieder zu ihr. Er war derjenige, der ihr antwortete. »Tja«, sagte er schulterzuckend, »das lässt sich ändern.«
    Der Schnee, der erste Schnee, war leicht und nass. Er zeichnete die Konturen der kahlen Pappelzweige nach und beugte die Äste der Nadelbäume. Der Ofen zischte und tickte den ganzen Tag. Alles war still. Im Backofen schmorte der Fasan, den Leonid am Morgen geschossen hatte und den sie mit Kartoffelknödeln und Sauerrahm servieren wollte. Sie las zum zehnten Mal, mindestens zum zehnten Mal, Tschechows Geschichte über die Bauern und ihr elendes Leben und darüber, wie ein Elend das nächste hervorbrachte, und schließlich legte sie das Buch beiseite und trat in den Garten, um die Schneeluft zu riechen und dem Wirbeln der dicken Flocken zuzusehen.
    Die Bäume standen da wie Wachtposten – schwarze Gestalten, die sich vom Schnee abhoben. Zwei Eichhörnchen machten sich am Fuß des Apfelbaums zu schaffen, kleine dunkle Flecken, die in der weißen Fläche scharrten. Mascha sorgte sich nicht mehr um sich selbst oder um Leonid, wohl aber um die Kinder, um Ilja und Nadja Ilenjuk, und darum, was die Zukunft ihnen bringen würde. Wie stand es um ihre Knochen? Was geschah mit dem Strontium-90 in dem Gras, das die Kühe den ganzen Tag wiederkäuten? Was würde Nikolai dazu sagen? Er würde sagen, dass sie verrückt waren, lebensmüde. Er würde sagen, dass es irgendwie unnatürlich war, in der Natur und unter freiem Himmel zu leben und auf der Erde umherzugehen, die einem alles gab, auch ihre Gifte – als wären die Wohnblocks mit ihrer Beengtheit und den Ausdünstungen der vielen Menschen, die dort lebten, eine Art Paradies.
    Sie wollte sich gerade umdrehen und wieder ins Haus gehen zu dem Fasan im Ofen und zu Leonid und dem Wodka, den sie bei ihrer Schachpartie vor dem Essen trinken würden, als sie neben dem Brennholzschuppen eine Bewegung wahrnahm. Dort war etwas, etwas Kleines, Gedrungenes, Geschmeidiges, und zuerst dachte sie, das Wiesel sei zurückgekehrt, doch dann sah sie, dass sie sich geirrt hatte: Es war eine Katze. Grau, gestreift, mit langem, dichtem Fell und einer weißen Schwanzspitze.
    »Gruscha«, rief sie leise, »bist du das?« Die Katze – Gruscha war dunkler gewesen, nicht? – sah sie mit einem langen, unverwandten Blick an, bevor sie hinter dem Schuppen verschwand. Mascha wollte das Tier nicht verscheuchen, und so bewegte sie sich ganz langsam und setzte behutsam einen Fuß vor den anderen, doch als sie schließlich am Schuppen stand, war es verschwunden, und sie fand nichts als ein paar undeutliche Spuren im nassen Schnee.

T.C. Boyle
    T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, unterrichtet an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Willkommen in Wellville (Roman, 1993), América (Roman, 1996), Riven Rock (Roman, 1998), Fleischeslust (Erzählungen, 1999), Ein Freund der Erde (Roman, 2001), Schluß mit cool (Erzählungen, 2002), Drop City (Roman, 2003), Dr. Sex (Roman, 2005), Talk Talk (Roman, 2006), Zähne und Klauen (Erzählungen, 2008), Die Frauen (Roman, 2009) und Das wilde Kind (Erzählung, 2010).
Daten, Fakten, Jahreszahlen
    1948 geboren in Peekskill, New York
T.C.

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