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In der Zone

In der Zone

Titel: In der Zone Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Freiheit, alles individuelle Streben unterdrückt hatte, war verschwunden und hatte sich in die Sicherheit der Amtsstuben in den vom Gift gereinigten Regionen des Landes zurückgezogen. Und die Menschen, die das Land jahrhundertelang gezähmt, geschunden und ausgebeutet hatten, waren ebenfalls fort. In ihrer Abwesenheit waren die wilden Tiere zurückgekehrt und hatten sich vermehrt. Weder sie selbst noch Leonid waren einen einzigen Tag krank – er war jetzt schlanker, seine Schultern waren straffer, sein Gesicht war gebräunt, und auch sie war durch die Arbeit kräftiger geworden und hatte die Fettpolster verloren, die sie in dem Wohnblock in Kiew angesetzt hatte. Die eindringlichen Warnungen, die Prophezeiungen von Krebs und Mutationen und dem ganzen Rest erschienen ihr jetzt wie Altweibermärchen. Was konnte sie sich mehr wünschen? Eine Kuh vielleicht, damit sie Milch, Butter und Käse hätten. Und dass Gruscha zurückkehrte. Aber sie war zufrieden, und wenn sie Leonid Knödel oder golubzi vorsetzte, sah sie in seinem Gesicht nichts als Liebe. Über seine Frau verlor er nie ein Wort.
    Und dann hörten sie eines Morgens, als sie beim Frühstück saßen – Haferbrei, am Vorabend gebackenes Brot, Erdbeermarmelade, die sie vor Jahren gekocht hatte, und eine Kanne guten, aromatischen chinesischen Tee, den Leonid bei seinen Streifzügen durch die Wälder in einem verlassenen Haus gefunden hatte –, mit einemmal ein seltsames, schreckliches Dröhnen, das den Gesang der Vögel und das Summen der Bienen übertönte. Im ersten Augenblick dachte sie, der Reaktor sei erneut explodiert und ihre letzte Stunde gekommen, doch dann verwandelte sich dieser Lärm in ein Geräusch, an das sie sich erinnerte: Auf der vergessenen Straße, die zum Haus führte, näherte sich ein Fahrzeug.
    Sie sprangen auf, gingen wie in Trance zur Tür, die offenstand, um die leichte Brise einzulassen, und sahen einen Wagen, einen Jeep mit verbeulten Kotflügeln und ohne Verdeck. Es saß nur ein Mann darin, und jetzt drehte er am Lenkrad und fuhr bis vor die Tür. Sie hätten nicht verblüffter sein können, wenn es der Premierminister persönlich gewesen wäre – oder ein Marsmensch. Ihr sank das Herz. Sie würden wieder vertrieben werden, dessen war sie sicher. Doch dann sah sie sich den Mann am Steuer genauer an und begriff: Es war Nikolai, das Gesicht gerötet, das blonde Haar zerzaust, die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen.
    »Mama«, sagte er, stieg aus dem Jeep, ließ sich von ihr in die Arme schließen und drückte sie an sich. Dann stellte sie ihn unbeholfen Leonid vor, den er natürlich aus Kindertagen kannte – später war er auf das staatliche Internat gegangen, von wo er nie zurückgekehrt war. Schließlich überreichte er ihr Geschenke: Lebensmittel aus der Stadt und ein Buch von William Faulkner, dem amerikanischen Schriftsteller, der über das Leben auf dem Land geschrieben hatte und dessen Werke er seit Jahren übersetzte – dabei hatte sie ihm schon vor langer Zeit gesagt, dass ihr die Bibel und Tschechow vollauf genügten.
    Ach, wie dick er geworden war! Als sie ihn zum Tisch führte und ihm Brot und Tee vorsetzte, bemerkte sie unwillkürlich seinen Bauch, der so fett war, dass er die unteren Hemdknöpfe nicht schließen konnte. Auch seine Wangen waren schwer geworden vom guten Leben. Er war sechsunddreißig. Er war ihr Sohn, der Professor. In all den Tagen, Wochen, Monaten während der drei Jahre, die sie in dieser Wohnung in Kiew wie lebendig begraben gewesen war, hatte er sie genau einmal besucht.
    Anfangs redeten sie über dies und das – das Wetter, die Streiks und Unruhen und Tragödien in der Welt dort draußen, die Gesundheit seiner kränklichen, kinderlosen Frau –, aber dann, nur wenige Minuten später, war er bei dem Thema, über das er mit ihr sprechen, nein, nicht einfach sprechen, sondern predigen wollte: das Gift. Wusste sie eigentlich, welcher Gefahr sie sich aussetzte? Begriff sie das? Hatte sie überhaupt eine Vorstellung? Seine Hände waren wie Butterklumpen, seine Augen waren blaublitzende Schlitze in einem geröteten, kugelrunden Gesicht. Das Brot schob er beiseite. Den Tee rührte er nicht an.
    Er griff nach dem Glas mit dem Honig – er stammte von wilden Bienen, und sie hatten ihn selbst gesammelt, die Waben waren unversehrt gewesen – und schwenkte es vor ihrem Gesicht. »Hast du eine Ahnung, wie radioaktiv dieser Honig ist? Du könntest dich nicht gründlicher vergiften, wenn du Arsen in

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