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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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einen neuen Wagen von ihnen schenken lasse! Ich werde in Zukunft ganz schön aufpassen müssen und überhaupt keine Geschenke mehr von ihnen annehmen, weil sie sonst nämlich glauben, sie hätten damit meinen Respekt erkauft.
    Chris hatte den gelben Datsun in seinem letzten Jahr auf der High - School gebraucht gekauft. Die nächsten Jahre hatte er damit während der Semesterferien regelmäßig auf eigene Faust lange Reisen unternommen, und auch an dem Wochenende der Abschlußfeierlichkeiten erwähnte er gegenüber seinen Eltern beiläufig, daß er diesen Sommer wieder unterwegs sein werde. Seine genauen Worte lauteten: »Ich glaub, ich werd mal wieder für 'ne Weile verschwinden.«
    Weder sein Vater noch seine Mutter dachten sich damals viel bei dieser Ankündigung, obwohl Walt seinen Sohn vorsichtig mit den Worten ermahnte: »Versuch es so einzurichten, daß du vorher noch auf einen Sprung zu uns kommst, Junge.« Chris lächelte und nickte halbherzig, was Walt und Billie als eine Art Zusage auffaßten, sie noch vor Ende des Sommers in Annandale zu besuchen. Dann verabschiedeten sie sich.
    Gegen Ende Juni schickte Chris, der immer noch in Atlanta war, seinen Eltern eine Kopie seines Abschlußzeugnisses: eine Eins in »Apartheid in der südafrikanischen Gesellschaft« sowie in »Die Geschichte der Anthropologie«; Eins minus in »Zeitgenössische afrikanische Politik und die Emährungskrise in Afrika«. Dem Zeugnis lag eine kurze Notiz bei:
    Hier also eine Kopie meines Abschlußzeugnisses. Ich habe einen recht hohen Durchschnitt. Was die Noten angeht, lief es also ganz gut.
    Vielen Dank für die Fotos, und auch für das Rasierset und die Postkarte aus Paris. Scheint, als wäre die Reise ein Volltreffer gewesen. Muß echt Spaß gemacht haben.
    Ich habe das Bild von Lloyd [Chris' bester Freund auf Emory] bereits an ihn weitergegeben, und er hat sich echt gefreut. Er hatte noch kein Foto von sich, auf dem er das Diplom entgegennimmt.
    Sonst ist hier nicht viel los. Nur daß es langsam anfängt, richtig heiß und schwül zu werden. Grüße an alle.
    Dies war das letzte Lebenszeichen, das Chris' Familie je von ihm erhalten sollte.
    Chris hatte das letzte Jahr in Atlanta außerhalb des Universitätsgeländes in einer Kammer verbracht, die in ihrer kargen Ausstattung an eine Mönchszelle erinnerte: ein Tisch, ein paar Milchkästen und eine Matratze auf dem Boden, das war alles. In der Kammer sah es stets so sauber und ordentlich aus wie in einer Militärbaracke. Er hatte auch kein Telefon; Walt und Billie konnten ihn also nicht anrufen.
    Als Chris' Eltern Anfang August 1990 immer noch nichts von ihrem Sohn gehört hatten, beschlossen sie, nach Atlanta zu fahren und ihn zu besuchen. Dort angekommen, mußten sie feststellen, daß seine Wohnung leer war. Ein Schild mit der Anschrift »Zu vermieten« klebte am Fenster. Von dem Hausmeister erfuhren sie, daß Chris Ende Juni ausgezogen war. Wieder zu Hause angekommen, fanden sie sämtliche Briefe vor, die sie ihrem Sohn im Laufe des Sommers geschrieben hatten. Sie waren in einem Bündel zusammengepackt an sie zurückgeschickt worden. »Chris hatte sein Postamt angewiesen, sie bis zum 1. August aufzubewahren, offenbar, damit wir nichts merken«, sagt Billie. »Wir haben uns die entsetzlichsten Sorgen gemacht.«
    Chris selbst war zu diesem Zeitpunkt längst über alle Berge. Fünf Wochen zuvor hatte er seine gesamte Habe in den kleinen Datsun gepackt und sich mit unbekanntem Ziel Richtung Westen aufgemacht. Der Trip sollte eine Odyssee im wahrsten Sinne des Wortes werden, eine epische Reise, die alles von Grund auf ändern würde. In den vergangenen vier Jahren hatte er sich - so empfand er es - einer absurden, nervtötenden Pflicht unterzogen: ein abgeschlossenes Studium hinter sich zu bringen. Nun war er endlich frei, befreit von der erdrückenden Welt seiner Eltern und Kommilitonen, einer unwirklichen Welt der Geborgenheit und des materiellen Überflusses, einer Welt, in der er das pulsierende, nackte Leben, nach dem er sich so sehnte, nie kennenlernen würde.
    Als er aus Atlanta aufbrach, wollte er für sich ein vollkommen neues Leben erfinden, ein Leben der ungefilterten Erfahrung. Um dem unwiderruflichen Bruch mit seinem bisherigen Dasein ein sichtbares Zeichen zu geben, nahm er sogar einen neuen Namen an. Er hörte nicht mehr auf Chris McCandless. Er war nun Alexander Supertramp, Herr seines Schicksals.

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