In die Wildnis
Offenbarung. Sie ist uns sowohl genetisch als auch physiologisch fremd; sie ist karg, ästhetisch abstrakt und seit jeher feindseliges Gebiet... In Form und Gestalt ist sie kühn und von erregender Wirkung auf die Phantasie. Die Sinne werden von Licht und Raumeindrücken überwältigt, von dem kinästhetischen Novum der Leblosigkeit, den hohen Temperaturen und dem Wind. Der Wüstenhimmel ist allumfassend, majestätisch und grauenerregend zugleich. In allen anderen Lebensräumen ist der blaue Rand über dem Horizont stets durchbrochen oder verschleiert; hier dagegen zeigt er sich in seiner ganzen unermeßlichen Weite, unendlich viel weiter als in hügeligen Landschaften und bewaldeten Regionen... In einem unverstellten Himmel wirken die Wolken mächtiger, plastischer, so als spiegele sich an ihrer konkaven Unterseite die Rundung des Erdballs selbst. Die kantige Klarheit der Wüste verleiht den Wolken ebenso wie der Landschaft das Antlitz einer monumentalen Architektur…
Propheten und Eremiten ziehen in die Wüste, Pilger und Verbannte ziehen durch sie. Hier haben die Gründer der großen Religionen ihr therapeutisches und spirituelles Refugium gesucht, nicht als Zuflucht vor der Wirklichkeit, sondern, im Gegenteil, um sie zu finden.
PAUL SHEPARD,
»MAN IN THE LANDSCAPE: A HISTORIC
VIEW OF THE ESTHETICS OF NATURE«
Der Bärentatzenmohn, arctomecon californica, ist eine wilde Mohnblumenart, die einzig und allein in einer abgelegenen Ecke der Mohavewüste wächst und nirgendwo sonst auf der Welt zu finden ist. Gegen Ende des Frühlings bringt sie eine zartgoldene, schnellwelkende Blüte hervor. Die meiste Zeit des Jahres kauert sie jedoch schmucklos und unbemerkt im verdörrten Wüstengrund. Die Blume ist von solchem Seltenheitswert, daß sie als aussterbende Art unter Naturschutz gestellt wurde. Im Oktober 1990 - McCandless hatte Atlanta bereits seit über drei Monaten verlassen - wurde Bud Walsh, ein Ranger in Diensten der Forstverwaltung des Nationalparks, in das Hinterland des Erholungsgebietes um Lake Mead ausgeschickt, um Bärentatzenmohnblumen zu zählen. Die zuständige Bundesbehörde wollte in Erfahrung bringen lassen, wie selten diese Blume denn nun wirklich ist.
Die arctomecon californica wächst ausschließlich in gipshaltigem Boden, wie es ihn am Südufer des Lake Mead zuhauf gibt. Dorthin führte Walsh also seinen Trupp von Rangers auf ihrer botanischen Expedition. Sie verließen die Temple Bar Road, fuhren zwei Meilen durch das Detrital Wash, ein ausgetrocknetes Flußbett, parkten ihre Geländewagen in der Nähe des Sees und erklommen das Ostufer des Flußbetts, eine steile Böschung aus brüchigem, weißem Gips. Ein paar Minuten später, kurz bevor sie oben ankamen, legte einer der Ranger kurz eine Atempause ein und blickte zufällig noch einmal ins Flußbett zurück. »Hey! Schaut mal her!« rief er. »Was zum Teufel ist das da?«
In einem Meldegebüsch am Rande des Flußbetts, unweit der Stelle, wo sie geparkt hatten, stand ein großes, unidentifizierbares Etwas, das von einer dunkelfarbenen Persenning bedeckt war. Als die Rangers die Plane herunterzogen, hatten sie einen alten, gelben Datsun ohne Nummernschilder vor sich. Auf einem an die Windschutzscheibe geklebten Zettel stand: »Hiermit überlasse ich diese Dreckskiste ihrem Schicksal. Sollte es jemand schaffen, sie hier herauszuholen, kann er sie gerne haben.«
Die Türen waren nicht verschlossen. Der Boden war lehmverkrustet, was offensichtlich von den Unwettern herrührte, die kürzlich über das Tal hereingebrochen waren und eine Überschwemmung verursacht hatten. Walsh schaute sich im Wagen um und fand einen Topf mit Geldmünzen im Wert von vier Dollar und dreiundneunzig Cents, ferner einen Football, eine Mülltüte mit schmutziger Wäsche, eine Angelausrüstung, einen neuen elektrischen Rasierer, eine Mundharmonika, zwei Startkabel und fünfundzwanzig Pfund Reis. Im Handschuhfach lag der Zündschlüssel.
Die Rangers suchten das Gebiet rings um den Wagen noch »nach irgendwas Verdächtigem« ab, wie Walsh sich ausdrückte, und zogen wieder ab. Fünf Tage später kehrte einer der Ranger zu dem Datsun zurück, machte ihn mit einem Startkabel wieder flott und fuhr den Wagen nach Temple Bar auf das Gelände der Fahrzeugwartung der Forstverwaltung. »Er hat ihn mit hundert Sachen die Stunde zurückgefahren«, weiß Walsh noch.
»Hat gemeint, die Kiste läuft wie 'ne Eins.« Um den Besitzer des Wagens ausfindig zu machen,
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