Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
Vom Netzwerk:
interessant, aber ganz schön hart.
    MARK TWAIN,
»HUCKLEBERRY FINNS ABENTEUER«
     
    Es ist wohl wahr, daß schöpferische Menschen in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen oft scheitern, und einige unter ihnen führen ein geradezu isoliertes Dasein. Sicherlich ist auch nicht zu leugnen, daß es genügend Fallbeispiele gibt, in denen ein frühes Trauma - z. B eine im frühen Kindesalter zu bewältigende Trennung oder irgendein schmerzlicher Verlust - einen potenziell gestalterisch-kreativen Geist dazu veranlagten, verstärkt die Seiten seiner Persönlichkeit auszubauen, die es ihm ermöglichen, auch in relativer Isolation Erfüllung zu finden. Aber dies bedeutet nicht, daß eine einsame, kreative Beschäftigung zwangsläufig auch pathologisch ist...
    Vermeidungsverhalten ist eine Reaktion, mit der ein Säugling sich vor drohenden Verhaltensstörungen zu schützen sucht. Im späteren Erwachsenenleben können sich von Vermeidungsverhalten geprägte Säuglinge durchaus ein starkes Bedürfnis entwickeln, Sinn und Ordnung in ein Leben zu bringen, dessen Gelingen nicht völlig oder hauptsächlich von zwischenmenschlichen Beziehungen abhängt.
    ANTHONY STORR,
»SOLITUDE:ARETURNTOTHESELF«
      
      
    Das Hirsefeld ist erst halb abgemäht. Der schwere Mähdrescher - eine John Deere 8020 - hockt im Abendlicht inmitten der einsamen Weite von South Dakota stumm da. Wayne Westerbergs schlammbeschmierte Sneakers ragen aus dem Schlund der Maschine hervor, der ihn wie ein monströses Stahlreptil zu verschlucken scheint. »Gebt mir mal den verdammten Schraubenschlüssel«, ruft eine wütende Stimme aus dem Innern der Maschine. »Oder könnt ihr bloß blöd rumstehen?« Der Mähdrescher war zum dritten Mal in drei Tagen liegengeblieben, und Westerberg werkelte verzweifelt daran herum und versuchte, noch vor Einbruch der Dunkelheit ein schwer erreichbares Zapfenlager zu ersetzen.
    Eine Stunde später hat er es doch noch geschafft und taucht öl und spreuverschmiert wieder auf. »Tut mir leid wegen vorhin. Daß ich so laut geworden bin«, entschuldigt sich Westerberg. »Wir schieben zu viele Achtzehn-Stunden - Tage. Ich schätze, mir geht langsam die Geduld aus, jetzt am Ende der Saison und so, und genug Leute haben wir auch nicht. Wir haben ja voll auf Alex gezählt.«
    Es war jetzt anderthalb Monate her, daß McCandless' Leiche am Stampede Trail in Alaska gefunden worden war.
    Sieben Monate zuvor, an einem klirrend kalten Nachmittag im März, war McCandless ins Büro der Siloanlagen von Carthage geschlendert und hatte verkündet, daß er wieder zur Verfügung stehe. »Wir sitzen da und machen gerade die Abrechnungen, so wie jeden Morgen«, erinnert sich Westerberg, »und dann kommt Alex mit einem riesigen alten Rucksack reinspaziert.« Er sagte zu Westerberg, daß er bis zum 15. April bleiben wolle, gerade lange genug, um sich das Geld für eine Alaska-Reise zusammenzusparen, für die er noch jede Menge Ausrüstung benötige. McCandless versprach, wieder früh genug nach South Dakota zurückzukehren, um bei der Ernte im Herbst zu helfen. Er wolle es jedoch unbedingt vor Ende April bis Fairbanks schaffen, um dort oben so viel Zeit wie möglich zu verbringen.
    Die Arbeit in jenen vier Wochen in Carthage war hart. McCandless übernahm die schmutzigsten und stumpfsinnigsten Tätigkeiten, Jobs, vor denen alle anderen sich drückten: Lagerhäuser ausmisten, Ungeziefer vernichten, anstreichen, Unkraut jäten. Um McCandless auch mal mit einer etwas anspruchsvolleren Arbeit zu belohnen, versuchte Westerberg, ihm das Fahren eines Frontladers beizubringen. »Alex hatte wohl nie viel mit Maschinen zu tun gehabt«, erzählt Westerberg mit einem Kopfschütteln, »und es war schon ziemlich witzig, zuzusehen, wie er versuchte, ein Gefühl für die Kupplung zu kriegen und für all die anderen Hebel. Daß er technisch begabt gewesen wäre, kann man ihm jedenfalls nicht nachsagen.«
    Auch sein Sinn fürs Praktische ließ zu wünschen übrig. Viele, die ihn kannten, erlaubten sich zuweilen die Bemerkung, daß er oft den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen habe. »Alex schwebte zwar nicht in einer anderen Welt«, erklärt Westerberg, »verstehen Sie mich nicht falsch. Aber er hatte seine Aussetzer. Ich weiß noch, wie ich einmal zum Haus rüber bin, durch die Küche komm und dann diesen fürchterlichen Gestank bemerke. Es hat richtig fies gestunken. Ich hab die Mikrowelle aufgemacht, und da war unten eine ganz dicke, ranzige Fettschicht. Alex hat

Weitere Kostenlose Bücher