In die Wildnis
Weg nach Norden war. Und er war erleichtert - erleichtert darüber, daß es ihm wieder einmal gelungen war, sich der drohenden menschlichen Nähe und Freundschaft zu entziehen und den unüberschaubaren emotionalen Verwirrungen und Belastungen, die so was nach sich zu ziehen pflegt. Er war der klaustrophobischen Enge seiner Familie entkommen. Er hatte es geschafft, Jan Burres und Wayne Westerberg auf Distanz zu halten und sich aus ihrem Leben zu entfernen, bevor irgendwelche Erwartungen an ihn gestellt werden konnten. Und jetzt hatte er sich aus dem Leben von Ron Franz gestohlen, kurz und schmerzlos.
Schmerzlos vor allem für ihn, McCandless - nicht aber für den Einundachtzigjährigen. Man könnte lange darüber spekulieren, warum Franz in diesem kurzen Zeitraum eine so starke Zuneigung zu dem Jungen entwickelt hatte, Tatsache ist jedoch, daß seine Gefühle echt, tief und selbstlos waren.
Ron Franz führte seit vielen Jahren ein Einsiedlerdasein. Er hatte keine Familie und nur wenige Freunde. Diszipliniert und daran gewöhnt, für sich selbst zu sorgen, kam er trotz seiner Einsamkeit und des hohen Alters gut zurecht. Doch sein sorgfältig aufgebauter Schutzschild wurde von dem Jungen, der mit plötzlicher Vehemenz in sein Leben getreten war, angeschlagen. Franz genoß McCandless' Gesellschaft in vollen Zügen, aber durch ihre erblühende Freundschaft wurde ihm erst recht klar, wie einsam er all die Jahre gewesen war. Und je mehr der Junge half, die klaffende Leere in Franz' Leben zu füllen, desto offensichtlicher wurde sie. Als McCandless dann ebenso schnell wieder verschwand, wie er gekommen war, fühlte Franz sich unversehens tief verletzt.
Anfang April war ein langer, in South Dakota abgestempelter Brief in Franz' Postfach angekommen. »Hallo, Ron«, heißt es dort, ... hier ist Alex. Jetzt schufte ich schon seit fast zwei Wochen hier in Carthage, South Dakota. Drei Tage nachdem wir uns in Grand Junction, Colorado, getrennt hatten, kam ich hier an. Ich hoffe, du bist gut nach Salton City zurückgekommen. Die Arbeit hier gefallt mir, und zur Zeit läuft es ganz gut. Das Wetter ist gar nicht mal so übel, und manchmal ist es hier sogar überraschend mild. Ein paar Farmer sind sogar schon draußen auf den Feldern. Bei Euch in Kalifornien wird es jetzt wohl schon langsam ganz schön heiß. Ich frage mich, ob Du vielleicht mal zu den Thermalquellen gefahren bist und mitbekommen hast, wie viele Leute zu dem Regenbogen-Treffen am 20. März gekommen sind. War sicher ganz lustig, obwohl ich das Gefühl habe, daß Du zu solchen Leuten keinen Draht hast.
Ich bleibe nicht mehr lange in South Dakota. Mein Freund Wayne möchte, daß ich noch den Mai über im Getreidesilo arbeite und dann mit ihm den ganzen Sommer mähen gehe, aber mein Gefühl sagt mir, daß ich jetzt nach Alaska muß, und ich hoffe, daß ich spätestens am 15. April dorthin aufbrechen kann. Das heißt also, daß ich hier schon bald die Zelte abbrechen werde. Daher wäre es gut, wenn Du mir möglichst bald meine Post schickst, falls welche angekommen ist. Die Adresse steht unten.
Ron, ich bin Dir wirklich dankbar für all Deine Hilfe und auch für die tolle Zeit, die wir zusammen verbracht haben. Ich hoffe, daß Dich der Abschied nicht allzu traurig gemacht hat. Es kann noch viel Zeit vergehen, bis wir uns wiedersehen. Aber Du hörst von mir, vorausgesetzt, daß ich mein Alaska-Vorhaben auch heil überstehe.
Ich möchte aber gern noch einmal auf meinen Ratschlag zurückkommen; ich finde nämlich, daß Du Dein Leben radikal ändern und ganz mutig Dinge in Angriff nehmen solltest, die Dir früher nie in den Sinn gekommen wären oder vor denen Du im letzten Moment zurückgeschreckt bist. So viele Leute sind unglücklich mit ihrem Leben und schaffen es trotzdem nicht, etwas an ihrer Situation zu ändern, weil sie total fixiert sind auf ein angepaßtes Leben in Sicherheit, in dem möglichst alles gleichbleibt - alles Dinge, die einem scheinbar inneren Frieden garantieren. In Wirklichkeit wird die Abenteuerlust im Menschen jedoch am meisten durch eine gesicherte Zukunft gebremst. Leidenschaftliche Abenteuerlust ist die Quelle, aus der der Mensch die Kraft schöpft, sich dem Leben zu stellen. Freude empfinden wir, wenn wir neue Erfahrungen machen, und von daher gibt es kein größeres Glück als in einen immer wieder wechselnden Horizont blicken zu dürfen, an dem jeder Tag mit einer neuen, ganz anderen Sonne anbricht. Wenn Du mehr aus Deinem Leben machen
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