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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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die Mikrowelle immer zum Hähnchenbraten hergenommen, und er ist nie auf die Idee gekommen, daß das Fett ja wohl irgendwohin ablaufen muß. Er war nicht etwa zu faul, das Ding zu reinigen - im Gegenteil, Alex hat immer penibel für Ordnung und Sauberkeit gesorgt - , er hat nur einfach das Fett nicht bemerkt.«
    Kurz nachdem McCandless in jenem Frühjahr nach Carthage zurückgekehrt war, stellte Westerberg ihn seiner langjährigen Freundin vor, Gail Borah. Die beiden hatten sich über die Jahre etliche Male getrennt und dann wieder zusammengerauft. Sie ist eine zierliche Frau mit feinen Gesichtszügen, traurigen Augen und langen blonden Haaren. McCandless und die fünfunddreißigjährige geschiedene Mutter zweier halbwüchsiger Kinder freundeten sich bald an. »Anfangs war er irgendwie schüchtern«, erzählt Borah. »Man hatte das Gefühl, daß es ihn streßte, mit Leuten zusammen zu sein. Ich hab mir einfach nur gedacht, daß das daher kommt, daß er so viel Zeit allein verbracht hat.
    Ich hab Alex so gut wie jeden Abend zum Essen dagehabt«, fährt Borah fort. »Er hatte einen gesunden Appetit. Hat den Teller immer leergegessen. Immer. Er war auch ein guter Koch. Manchmal hat er mich zu Wayne eingeladen und für uns alle Abendessen gemacht. Hat viel mit Reis gemacht. Ein Wunder, daß ihm der Reis nicht irgendwann mal zum Hals raushing. Er hat mal gesagt, daß er einen ganzen Monat lang von zwölf Kilo Reis und nichts anderem leben könnte.
    Alex hat viel erzählt, wenn wir zusammen waren«, erinnert sich Borah. »Ging über richtig ernste Dinge, so, als ob er einem seine Seele ausschüttet oder so. Er hat gemeint, daß er mir Sachen erzählen kann, die er den anderen nicht sagen kann. Irgend etwas hat an ihm genagt, das hat man gleich gemerkt. Anscheinend kam er mit seinen Eltern und seiner Familie nicht zu Rande, aber er hat nie viel über sie erzählt, außer über Carine, seine kleine Schwester. Er hat gemeint, daß sie sich sehr nahe sind. Daß sie eine Schönheit ist und daß sich die Jungs auf der Straße nach ihr umdrehen und sich die Augen aus dem Kopf starren.«
    Was Westerberg anlangt, so kümmerte er sich weniger um McCandless' Familiengeschichten. »Ich hab nie rausgekriegt, warum er so sauer auf die war, aber ich hab mir gedacht, er wird schon seine Gründe haben. Jetzt, wo er tot ist, bin ich mir da nicht mehr so sicher. Wenn Alex jetzt hier war, würd ich ihm meine Meinung sagen: Was zum Teufel hast du dir eigentlich dabei gedacht? Dich die ganze Zeit nicht bei deiner Familie zu melden, sie wie'n Stück Dreck zu behandeln! Einer von den Jungs, die hier für mich arbeiten, hat überhaupt keine Eltern, verdammt noch mal, aber ich hab ihn noch nie meckern hören. Ich hab keine Ahnung, was mit den Eltern von Alex los war, aber was auch immer es ist, ich hab auf jeden Fall schon sehr viel Schlimmeres gesehen. So wie ich Alex kenne, ist bestimmt irgendwas zwischen ihm und seinem Vater vorgefallen, und Alex konnte keine Ruhe geben.«
    Westerbergs letztere Vermutung war, wie sich herausstellte, eine ziemlich scharfsinnige Analyse des Verhältnisses zwischen Chris und Walt McCandless. Beide, der Vater wie der Sohn, waren reizbare Dickköpfe. Angesichts Walts Sucht, alle und alles kontrollieren zu wollen, und Chris' extrem ausgeprägter Freiheitsliebe war der Streit vorprogrammiert. Während seiner Schul und Collegezeit fügte Chris sich Walts Autorität noch in erstaunlichem Maße, doch innerlich kochte und gärte es in dem Jungen schon unablässig. Er brütete ausgiebig über vermeintliche moralische Unzulänglichkeiten seines Vaters, den heuchlerischen Lebensstil seiner Eltern und dem Druck ihrer Liebe, die immer an bestimmte Bedingungen geknüpft war. Irgendwann probte Chris den Aufstand - und als er einmal damit angefangen hatte, tat er es mit der ihm eigenen Unerbittlichkeit.
    Kurz bevor er verschwand, beschwerte Chris sich bei Carine über seine Eltern. Ihr Verhalten sei »dermaßen selbstherrlich und repressiv, dermaßen dreist und demütigend, daß bei mir die Schmerzgrenze erreicht ist«. Er schreibt weiter:
    Da sie sich kategorisch weigern, mich ernst zu nehmen, werde ich sie nach dem College-Abschluß ein paar Monate in dem Glauben lassen, daß sie ja so recht haben mit allem, daß ich »die Dinge jetzt endlich auch mal von ihrer Warte aus sehe« und daß unser Verhältnis sich normalisiert. Und dann, wenn die Zeit gekommen ist, werde ich sie mit einem einzigen, schnellen Schlag total aus meinem

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