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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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andere, die den Verlockungen der Wildnis erlagen, schien auch McCandless von einer Variante der Lust getrieben zu sein, die die sexuelle Begierde verdrängt. In gewissem Sinne war seine Sehnsucht zu stark, um durch natürlichen menschlichen Kontakt gestillt zu werden. Der Beistand, den ein Verhältnis mit einer Frau versprach, mag McCandless gereizt haben, doch letztendlich verblaßte dieser Reiz neben der Aussicht auf die Vereinigung mit der nackten Natur, dem Kosmos. Und so verwundert es nicht, daß es ihn nach Norden zog, nach Alaska.
    McCandless versicherte sowohl Westerberg als auch Borah, daß er im Anschluß an seinen Aufenthalt im Norden nach South Dakota zurückkehren und zumindest den Herbst über bleiben wolle. Danach würde man weitersehen.
    »Ich hatte den Eindruck, daß diese Alaska - Eskapade sein letztes, großes Abenteuer werden sollte«, meint Westerberg, »und daß er dann so langsam mit 'nem geregelten Leben anfangen wollte. Er meinte, daß er über seine Reisen ein Buch schreiben will. Er hat sich in Carthage wohl gefühlt. Mit seiner Ausbildung hat ihm keiner abgenommen, daß er den Rest seines Lebens in einem gottverdammten Getreidesilo schaffen würde. Aber er hatte fest vor zurückzukommen und noch 'ne Zeitlang zu bleiben, uns im Silo auszuhelfen und sich zu überlegen, was weiter wird.«
    In jenem Frühling jedoch waren McCandless' Pläne unverrückbar auf Alaska gerichtet. Bei jeder Gelegenheit redete er von seiner Reise. Er machte erfahrene Jäger der Umgegend ausfindig und bat sie um Tips für die Pirsch, das Ausnehmen und Zerlegen von Wild und das Haltbarmachen von Fleisch. Borah fuhr ihn zu einem großen Einkaufszentrum in Mitchell, wo er noch ein paar Sachen für seine Ausrüstung kaufen wollte.
    Mitte April hatte Westerberg viele Aufträge, aber kaum Leute. Daher bat er McCandless, seine Abreise um ein, zwei Wochen zu verschieben. McCandless wollte jedoch nichts davon hören und lehnte ab. »Wenn Alex sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er durch nichts und niemand mehr davon abzubringen«, klagt Westerberg. »Ich hab ihm sogar angeboten, ihm ein Flugticket nach Fairbanks zu kaufen. Damit hätte er noch zehn Tage weiterarbeiten können und war immer noch Ende April in Alaska gewesen, aber er hat gesagt: ›Nein, ich will in den Norden trampen. Fliegen wäre nicht fair. Würde mir die ganze Reise kaputtmachen.‹«
    Zwei Tage vor McCandless' geplantem Aufbruch lud ihn Mary Westerberg, Waynes Mutter, zum Abendessen ein. »Meine Mutter mag die meisten Leute nicht, die ich so anheure«, erklärt Westerberg, »und sie war auch nicht allzu begeistert von der Idee, Alex kennenzulernen. Aber ich hab ihr immer wieder damit in den Ohren gelegen und gesagt: ›Du mußt den Jungen unbedingt kennenlernen‹, und dann hat sie schließlich nachgegeben und ihn zum Abendessen eingeladen. Die beiden haben sich auf Anhieb verstanden. Fünf Stunden lang haben sie nonstop miteinander gequatscht.«
    »Er hatte irgendwas Faszinierendes an sich«, erklärt Mrs. Westerberg, die an einem glänzend polierten Walnußtisch sitzt. An dem gleichen Platz hatte an jenem Abend McCandless gesessen. »Alex kam mir viel älter vor als vierundzwanzig. Bei allem, was ich sagte, wollte er genauer Bescheid wissen und hat nachgehakt, was ich genau meinte, warum ich dies oder jenes dachte. Er war wißbegierig. Im Gegensatz zu den meisten Menschen war er jemand, der streng nach seinen Überzeugungen lebt, komme was wolle.
    Wir haben uns stundenlang über Bücher unterhalten. In Carthage gibt es nicht so viele Leute, die sich gern über Bücher unterhalten. Er hat in einem fort über Mark Twain geredet. Mensch, hat das Spaß gemacht, den Jungen dazuhaben. Ich hätte die ganze Nacht so sitzenbleiben können. Ich hatte mich so drauf gefreut, ihn im Herbst wiederzusehen. Er geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich seh immer wieder sein Gesicht vor mir. Er saß in dem gleichen Stuhl, in dem Sie sitzen. Wenn ich bedenke, daß Alex und ich ja nur ein paar Stunden miteinander verbracht haben, erstaunt es mich, wie nahe mir sein Tod geht.«
    An seinem letzten Abend in Carthage ging McCandless mit Westerbergs Crew ins »Cabaret« und feierte noch einmal kräftig. Der Jack Daniels floß in Strömen. Alle waren überrascht, als McCandless sich ans Piano setzte - er hatte nie erwähnt, daß er Klavier spielt - und schräge Country und Varietemelodien runterhämmerte, dann Ragtime und schließlich noch ein paar Tony - Bennett -

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