In die Wildnis
Leben katapultieren. Ich werde sozusagen die Scheidung einreichen, mich für immer und ewig von ihnen lossagen und, solange ich lebe, nie mehr ein Wort an diese beiden Idioten richten. Ich werde mit ihnen fertig sein, ein für allemal, für immer und ewig.
Die menschliche Kälte, die Westerberg in dem Verhältnis zwischen Alex und seinen Eltern vermutete, stand in krassem Gegensatz zu der Wärme, die McCandless in Carthage ausstrahlte. Kontaktfreudig und von einnehmen dem Wesen, wenn er in der richtigen Laune war, bezauberte er die Leute regelrecht. Wenn er nach South Dakota zurückkam, wartete stets ein ganzer Stapel Post auf ihn - Briefe von Leuten, die er unterwegs kennengelernt hatte, unter anderem auch von einem Mädchen, das, wie Westerberg noch weiß, »total verknallt in ihn war, irgend jemand, den er in so einer Art Timbuktu - so was wie ein Camping - Platz, glaub ich - kennengelernt hat«. McCandless hatte jedoch nie etwas von irgendwelchen Liebschaften erwähnt, weder Westerberg noch Borah gegenüber.
»Ich wüßte nicht, daß Alex jemals was von irgendwelchen Freundinnen erzählt hätte«, sagt Westerberg.
»Obwohl, ab und zu hat er davon geredet, daß er eines Tages heiraten und eine Familie gründen will. Alex war niemand, der Beziehungen auf die leichte Schulter nimmt. Er war nicht der Typ, der rausgeht und irgendein Mädchen abschleppt.«
Auch Borah war klar, daß McCandless nicht viel Zeit damit verbracht hatte, Single - Bars abzuklappern. »Einmal sind wir alle in eine Bar drüben in Madison gegangen«, erzählt sie, »und wir haben ihn kaum auf die Tanzfläche gekriegt. Aber als er einmal drauf war, war er kaum noch runter zu kriegen. Wir haben einen Riesenspaß gehabt. Als Alex tot war, hat Carine mir erzählt, daß ich ihres Wissens eins der wenigen Mädchen war, mit dem Alex jemals tanzen gegangen ist.«
Auf der High School hatte McCandless mit zwei oder drei Angehörigen des anderen Geschlechts ein engeres Verhältnis, und Carine erinnert sich an einen Vorfall, als er in völlig betrunkenem Zustand mitten in der Nacht versucht hatte, ein Mädchen zu sich aufs Schlafzimmer abzuschleppen (als sie die Treppe hochgingen, machten sie einen solchen Krach, daß Billie aufwachte und das Mädchen nach Hause schickte). Aber auch sonst ist nichts darüber bekannt, daß er als Teenager sexuelle Erfahrungen gemacht hätte, und noch weniger deutet daraufhin, daß er nach der High - School mit einer Frau geschlafen hätte. (Auch gibt es keinen Grund anzunehmen, daß er mit einem Mann intim gewesen wäre.) McCandless fühlte sich also allem Anschein nach zu Frauen hingezogen, übte sich aber in mönchischer Enthaltsamkeit.
Keuschheit und moralische Unbeflecktheit waren Werte, über die McCandless oft und ausgiebig sinnierte. Tatsächlich fand man unter den Büchern bei seiner Leiche eine Kurzgeschichtensammlung, die Tolstois »Kreutzersonate« enthielt, in der ein zur Askese bekehrter Edelmann die »Versuchungen des Fleisches« anprangert. Eine ganze Reihe solcher und ähnlicher Passagen des arg zerlesenen Textes sind mit Sternchen versehen oder dick angestrichen. Die Ränder sind übersät mit rätselhaften Notizen in McCandless' Handschrift. Und in dem Kapitel »Höhere Gesetze« in Thoreaus »Walden«, das ebenfalls im Bus gefunden wurde, kreiste McCandless folgende Stelle ein: »Keuschheit ist des Menschen Blüte, und was wir Genius, Heroismus, Heiligkeit nennen, sind nur die verschiedenen Früchte, die sie reifen läßt.«
Wir Amerikaner sind besessen vom Sex. Sex ist überall.
Überall erregt er uns, kitzelt uns, erschreckt uns. Wenn ein offensichtlich gesunder Mensch, insbesondere ein gesunder, junger Mann, beschließt, den Verlockungen des Fleisches zu entsagen, dann reagieren wir schockiert und blicken uns scheeläugig an. Unser Argwohn ist geweckt.
McCandless' offensichtliche sexuelle Unschuld steht jedoch in der Tradition eines Menschentypus, den man in unserem Kulturkreis zu bewundern vorgibt, zumindest gilt das für ihre berühmteren Verfechter. Mit seinen widersprüchlichen Gefühlen in bezug auf Sexualität wandelt McCandless auf den Spuren mehrerer gefeierter Persönlichkeiten, die sich wie er für die unberührte Natur begeisterten - Thoreau (der sein Leben lang keusch blieb) und der Naturschützer John Muir, um nur zwei der prominentesten Vertreter zu nennen, ganz zu schweigen von den Heerscharen weniger berühmter Pilger, Wahrheitssucher, Aussteiger und Abenteurer. Wie so viele
Weitere Kostenlose Bücher