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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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McCandless gibt es Ähnlichkeiten. Wie Rosellini und Waterman war McCandless ein Suchender, und wie auf sie übte die Wildnis eine weltferne Faszination auf ihn aus. Wie Waterman und McCunn legte er einen erschütternden Mangel an gesundem Menschenverstand an den Tag. Aber McCandless war im Unterschied zu Waterman nicht geistesgestört. Und anders als McCunn ging er nicht in dem Glauben in die Wildnis, daß schon irgend jemand auftauchen würde, um ihn zu retten, falls etwas schieflaufen sollte.
    McCandless paßt nicht so recht ins stereotype Bild des Opfers der Wildnis. Auch wenn er zu überstürzten Entscheidungen neigte, von den schwierigen Lebensbedingungen im Landesinnern keine Ahnung hatte und achtlos bis zur Tollkühnheit war: ein Dilettant war er nicht - sonst hätte er wohl kaum einhundertdreizehn Tage durchgehalten. Und er war kein durchgeknallter Spinner, kein Soziopath, kein ausgestoßener Sonderling. McCandless war etwas anderes - was genau, ist schwierig zu sagen. Vielleicht ein Pilger.
    Um Chris McCandless' tragisches Ende besser zu verstehen, lohnt es sich vielleicht, sich mit einigen seiner Vorläufer zu beschäftigen, Menschen, die aus demselben, exotischen Holz geschnitzt waren wie er. Und dazu muß man einen Blick über Alaska hinaus wagen, zu den kahlen Canyons des südlichen Utah. Im Jahre 1934 zog dort ein seltsamer zweiundzwanzigjähriger Junge in die Wüste aus und kehrte nie wieder zurück. Er hieß Everett Ruess.
     



Die Davis - Schlucht

    KAPITEL NEUN
    Du fragst, wann ich meinen nächsten Abstecher in die zivilisierte Welt machen werde. Nun, ich glaube nicht, daß dies sehr bald sein wird. Ich bin der Wildnis noch lange nicht überdrüssig, genieße vielmehr ihre Schönheit und das Wanderleben, das ich führe, mit jedem neuen Tag mehr. Ich sitze tausendmal lieber im Sattel als in der Trambahn, und auf ein Dach über dem Kopf verzichte ich gern, wenn ich nur unter einem besternten Himmel sitzen darf; der einsame, unwegsame Trail, der mich an einen unbekannten Ort führt, reizt mich mehr als jeder asphaltierte Highway, und auch bin ich lieber vom tiefen Frieden der Wildnis umgeben als von der Unzufriedenheit, die in den Städten herrscht. Kannst Du es mir verübeln, wenn ich bleibe, wo ich mich heimisch fühle, wo ich eins bin mit der Welt um mich herum? Es ist wahr, mir fehlt zuweilen der gute Freund, das geistreiche Gespräch. Doch es gibt kaum jemanden, mit dem ich mich über die Erlebnisse, die mir soviel bedeuten, austauschen könnte. Ich habe daher längst gelernt, darauf zu verzichten. Es reicht mir vollkommen, von Schönheit umgeben zu sein...
    Auch wenn Du's mir nur flüchtig geschildert hast, weiß ich, daß ich den Trott und die Eintönigkeit des Lebens, das Du zu führen gezwungen bist, nicht einen Tag aushalten könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, meinem Wanderleben jemals abzuschwören. Ich bin zu tief in die Geheimnisse des Lebens vorgedrungen und würde so ziemlich alles einer Rückkehr ins Leben der Mittelmäßigkeit vorziehen.
    DER LETZTE BRIEF VON
EVERETT RUESS AN SEINEN BRUDER WALDO
VOM 11. NOVEMBER 1934
     
    Everett Ruess hatte die Suche nach Schönheit zum Lebensinhalt erkoren. Sein Verständnis von Schönheit war dabei von einer naiven Romantik bestimmt, und der eine oder andere mag vielleicht über die Übertriebenheit seiner Schönheitsverehrung lächeln, wenn da nicht die einzigartige Hingabe wäre, mit der er sie betrieb. Ästhetizismus als Salonpose ist lächerlich und grenzt ans Obszöne; als Lebensform erlangt sie jedoch zuweilen Würde. Wenn wir Everett Ruess verlachen, so ist John Muir ebenso lächerlich, denn abgesehen vom Alter besteht zwischen den beiden kaum ein Unterschied.
    WALLACE STEGNER,
»MORMON COUNTRY«
      
      
    Der Davis - Creek ist ein Großteil des Jahres über nur ein Rinnsal, und manchmal nicht einmal das. Am Fuße einer hochaufragenden Felswand entspringend, dem sogenannten Fiftymile Point, schlängelt er sich durch die rosa schimmernden Sandsteintafeln Süd - Utahs. Nach nur vier Meilen mündet er in aller Bescheidenheit in den Lake Powell, die gigantische Talsperre, die sich vom Glen-Canyon - Damm aus einhundertneunzig Meilen weit in Richtung Norden erstreckt. Die schlitzförmige Davis-Schlucht, die der Creek durchfließt, ist eine winzige, aber reizvolle Wasserscheide. Das Gelände ist verdorrt und unwegsam, und seit Jahrhunderten verläßt sich der Durchreisende auf die fruchtbare Oase, die sich tief unten in der Schlucht

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