In die Wildnis
verborgen hält. Gespenstische, neunhundert Jahre alte Felszeichnungen und Hieroglyphen schmücken die Steilwände. In geschützten Nischen liegen zerfallene Felsbehausungen des längst verschwundenen Kayenta - Anasazi - Stamms versteckt, den Schöpfern der Zeichnungen. Im Sand finden sich noch alte Tonscherben der Anasazi, vermischt mit rostigen, achtlos beiseite geworfenen Konservendosen der Viehhüter, die um die Jahrhundertwende im Canyon ihr Vieh weideten und tränkten.
Die Schlucht ist verhältnismäßig kurz. Wie eine tiefe, klaffende Wunde windet sie sich durch das glatte Felsgestein. An manchen Stellen wird sie so eng, daß man über sie hinwegspucken könnte. Überall vereiteln Felsvorsprünge einen Abstieg in den Creek. Am unteren Ende der Schlucht, unweit der Mündungsstelle am Lake Powell, gibt es jedoch einen verborgenen Pfad, eine natürliche abschüssige Rampe, die in Serpentinen den Westrand des Canyons hinunterführt. Sie endet ein Stück oberhalb der Wasserrinne und geht in eine holprige Treppe über, die vor fast einem Jahrhundert von mormonischen Viehhütern in den weichen Sandstein gemeißelt wurde.
Die Landschaft um die Schlucht herum ist von nacktem Fels und ziegelrotem Sand geprägt. Der Pflanzenwuchs ist spärlich. Es gibt praktisch keinen Schutz vor der sengenden Sonne. Wer jedoch in den Canyon hinabsteigt, sieht sich urplötzlich in eine andere Welt versetzt. Pappeln beugen sich anmutig über blühende Kakteengruppen. Hochaufgeschossene Gräser wiegen sich im Wind. Die kurzlebige Blüte einer Mormonentulpe lugt unter einem dreißig Meter hohen Felsbogen hervor, und das klagende Zwitschern von Zaunkönigen weht aus dichtbelaubten Zwergeichen herüber. Moosbeete und saftig grüne Büschel von herabhängendem Frauenhaar gedeihen an dem feuchten Lauf einer kleinen Quelle, die hoch oben der Felswand entspringt.
In diesem bezaubernden Refugium, knapp eine Meile von der Stelle, an der die Treppenstufen zu dem Talgrund aufschließen, ritzte vor sechs Jahrzehnten der damals zwanzigjährige Everett Ruess unter einer Felstafel mit Hieroglyphen der Anasazi sein Schriftstellerpseudonym in die Steilwand des Canyons, genau so wie an den Eingang zu einer kleinen Steinhütte, die von den Anasazi zur Getreidelagerung errichtet worden war. »NEMO 1934«, kritzelte er. Zweifellos folgte er dabei demselben Impuls, aus dem heraus Chris McCandless »Alexander Supertramp/May 1992« auf den Bus am Sushana schrieb - ein Impuls, der sich vielleicht gar nicht so stark unterscheidet von dem, der die Anasazi - Indianer dazu bewog, das Felsgestein mit ihren mittlerweile nicht mehr entzifferbaren Symbolen zu schmücken. Wie auch immer, kurz nachdem Ruess sein Signum in den Sandstein geritzt hatte, verließ er die Davis - Schlucht und verschwand auf rätselhafte Weise. Sein Verschwinden war offenbar von ihm selbst geplant worden. Eine großangelegte Suchaktion ergab keinerlei Aufschlüsse über sein Verbleiben. Er war einfach weg, von der Wüste verschluckt. Sechzig Jahre später wissen wir immer noch so gut wie nichts über das, was damals wirklich geschah.
Everett wurde 1914 als der jüngere von zwei Söhnen von Christopher und Stella Ruess in Oakland, Kalifornien, geboren. Christopher hatte Theologie in Harvard studiert und war gleichzeitig Dichter, Philosoph und Priester der Unitarian Church. Seinen Unterhalt verdiente er sich allerdings als Verwaltungsbeamter im kalifornischen Strafvollzug. Stella war eigenwillig, energiegeladen und allem Unkonventionellen zugetan. Sie hatte ausgeprägte künstlerische Ambitionen, und zwar sowohl für sich selber als auch für ihre Kinder. Auf eigene Kosten gab sie eine literarische Zeitschrift heraus, das Ruess Quartette, auf dessen Titelblatt die Familienmaxime prangte: »Preise den Tag«. Die vier waren eine verschworene Gemeinschaft, trotz oder gerade wegen ihres nomadischen Lebensstils. Sie zogen über Oakland nach Fresno und weiter nach Los Angeles. Von dort ging es nach Boston, dann nach Brooklyn, dann nach New Jersey und weiter nach Indiana, bis sie sich in Südkalifornien niederließen. Everett war vierzehn.
In Los Angeles besuchte Everett die Otis Art School und die Hollywood - High - School. Er war sechzehn, als er zu seinem ersten langen Alleintrip aufbrach und im Sommer 1930 durch Yosemite und Big Sur trampte, wobei er schließlich in Carmel landete. Zwei Tage nachdem er dort angekommen war, klopfte er in munterer Respektlosigkeit an die Tür Edward Westons, der vom
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